Reichel Mathematik 6, Schulbuch

198 Exkurs 5 Dabei stellte er fest, dass offenbar „die Mathematik nicht im Einklang mit dem praktischen Leben sei“, wobei er unter „praktischem Leben“ eben das Glücksspiel verstand. So wandte er sich 1654 an den berühmten Philosophen und Mathematiker Blaise PASCAL (1623–1662), und dieser trat darüber mit Pierre de FERMAT (1607–1665) in einen regen Briefwechsel. Obwohl Fragestellungen dieser Art weder neu noch ungewöhnlich waren – Glücks- spiele lassen sich bis weit vor unsere Zeitrechnung nachweisen – war dies die Geburtsstunde der Wahr- scheinlichkeitsrechnung, wo man versucht den „Zu- fall“ zu „berechnen“. Seither werden viele Probleme des „praktischen Le- bens“ mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Metho- den untersucht und entschieden. Dazu gehören et- wa Verkehrsprobleme (Schaltung von Ampeln und Ausbau von Straßen nach dem wahrscheinlichen Verkehrsfluss), medizinische Probleme (Operations- risiko, Medikamentenwirksamkeit), wirtschaftliche Probleme (Optimierung des Wechselgeldbedarfs an der Kassa im Supermarkt und des Bargeldvorrats in der Bankfiliale), technische Probleme (Zuverlässig- keit von Bauteilen) bis hin zu juristischen Proble- men (Verurteilung in Indizienprozessen). Zu Letzterem die folgende wahre Begebenheit (nach einem Artikel von G. SCHRAGE im Journal für Mathematik-Didaktik, Heft 1/2, 1980): Im Herbst 1973 fand in einem Wuppertaler Schwur- gericht ein aufsehenerregender Mordprozess statt. Zwei Gutachter errechneten in diesem Indizien- prozess Wahrscheinlichkeiten bis zu 99,94% für die Täterschaft des Angeklagten, was wohl zu des- sen Verurteilung geführt hätte, hätte sich nicht he- rausgestellt, dass der Angeklagte zur Tatzeit in sei- nem 100 km entfernten Wohnort war. Der eine Gutachter wertete die Blutspuren an der Kleidung des Beklagten wie folgt: 17,27% der Bun- desbürger besitzen Blut jener Blutgruppe, das in Spuren unter den Fingernägeln des Opfers gefun- den wurden. 15,69% der Deutschen besitzen Blut der Blutgruppe des Opfers, das in Spuren an den Stiefeln des Beklagten entdeckt wurde. Daraus er- rechnete der Gutachter eine Gesamtwahrschein- lichkeit von 97,3% , mit der der Beklagte als Täter in Betracht komme. Rechnen wir dies nach: Es sei K das Ereignis „Der Beklagte hatte Kontakt mit dem Opfer“ (was dieser bestritt), B das Ereig- nis, dass die Blutgruppe der Blutspuren an den Stiefeln mit der des Opfers ident ist und C das Er- eignis, dass die Blutgruppe der Blutspuren unter den Fingernägeln mit der des Beklagen überein- stimmt. Mathematisch formalisiert kannte man P (B 1 K’) = 0,1569 und P (C 1 K’) = 0,1727. Die Ereignisse (B 1 K’) und (C 1 K’) dürfen wohl als unabhängig angenommen werden. Bezeichnet nun D das Ereignis, dass sowohl B als auch C eingetre- ten sind, so folgt: P (D 1 K’) = P (B 1 K’)·P (C 1 K’) = 0,027 Unter der Hypothese, dass kein Kontakt zwischen Opfer und Beklagtem stattgefunden hat, ist die Wahrscheinlichkeit für diesen Untersuchungsbe- fund mit 0,027 tatsächlich sehr gering, woraus der Gutachter schloss, dass der Angeklagte daher mit 1 – 0,027 ≈ 97,3% mit dem Opfer Kontakt hatte (und damit dringend tatverdächtig sei). antiker Würfel Reicht der Hausverstand oder braucht man die Mathematik? Der Anstoß zur mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung kam von einem Menschen, der der Mathematik unwissend und uninteressiert gegenüberstand, durch den CHEVALIER DE MÉRÉ (1607– 1685), einem am Hofe Ludwigs des XIV. wirkenden Philosophen und Literaten. Wie viele Mitglieder der höheren Pariser Gesellschaft des 17. Jahrhunderts war auch er dem Glücksspiel verfallen. Ihn interessierte besonders ein Würfelspiel, bei dem die Bank gewinnt, wenn bei viermaligem Würfeln mindestens einmal die Augenzahl 6 erscheint. Nur zu Prüfz ecken – Eigentum des Ve lags öbv

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