Reichel Mathematik 6, Schulbuch

199 5 F 1 Dieser Schluss ist aber Unsinn, unterstellt er doch die Gültigkeit der Beziehung P (K 1 D) + P (D 1 K’) = 1 die schlichtweg falsch ist . Eine Beziehung zwi- schen P (K 1 D) und P (D 1 K’) besteht nur über die BAYES'sche Regel in der Form 1 – P (K 1 D) = P (K’ 1 D) = P (D 1 K’)·P (K’) ________ P (D) wozu es der Kenntnis von P (K’) = 1 – P (K) und P (D) bedarf. Hier ging der Gutachter als Zeichen seiner „Unvoreingenommenheit“ von P (K) = P (D) = 50% aus, da ja der Angeklagte ebenso gut unschuldig wie schuldig sein könne, was vielleicht bei einem Vaterschaftsprozess bei zwei gleichermaßen mögli- chen Vätern angebracht ist, aber nicht hier. Man hätte ja auch wie folgt „unvoreingenommen“ bewerten können: Als mögliche Täter kommen alle Einwohner im „näheren“ Umkreis in Betracht, sa- gen wir zB 10 7 Personen. Nehmen wir weiters an, dass die Blutspuren unter den Nägeln mit Sicherheit vom Mörder stammen, so reduziert sich die Zahl der Verdächtigen auf 0,1727·10 7 Personen. Nehmen wir weiters an, dass sich bei gründlicher Untersuchung bei jeder hundertsten Person mikroskopische Spu- ren von Blut der Blutgruppe des Opfers finden, dann treffen die gleichen Verdachtsmomente wie für den Angeklagten auf 1,727·10 6 ·10 ‒2 ·0,1569 ≈ 2700 Per- sonen zu. Nehmen wir weiters an, dass ein Mörder mit Wahrscheinlichkeit 0,5 (im Zuge des Kampfes) Blutspuren des Opfers abbekommt, so kommen so- gar 2·2700 = 5400 Personen als Täter in Betracht. Dh.: Unter alleiniger Berücksichtigung der obigen Blutspurenbefunde ist die Wahrscheinlichkeit für die Täterschaft des Beklagten nur 1/5400 = 0,018% statt der (jedenfalls falsch berechneten) 97,3% . Mit der heute verfügbaren DNA-Analyse wären die zugrunde gelegten Wahrscheinlichkeiten sehr viel „schärfer“ bestimmbar als bei der bloßen Blutgrup- penbestimmung. Das ändert aber nichts an der Grundproblematik, aus bekannten Wahrschein- lichkeiten auf mathematisch korrekte Art eine ge- suchte Wahrscheinlichkeit (hier die der Täter- schaft) zu berechnen – was die „Experten“ im obigen Fall eben nicht taten. Was allerdings korrekt ist, ist auch für echte Exper- ten der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht immer klar, wie das berühmte Paradoxon von Joseph BERTRAND (1822–1900) aus dem Jahr 1889 zeigt, das erst 80 Jahre später von E. T. JAYNES (1922– 1998) zufriedenstellend gelöst werden konnte: Im Einheitskreis werden zufällig Geraden gezeich- net. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Abstand vom Zentrum < 1/2 ist? Es bieten sich zB folgende „Lösungen“ an: Fig. 2a 1 2‒ 1 2+ Fig. 2b Ā 3 Ā 3 Ā 3 1) Wir gehen davon aus , dass der Abstand vom Zentrum mit gleicher Wahrscheinlichkeit alle Werte aus [0; 1] annehmen kann. Dann ist das Intervall der günstigen Ereignisse [0; 1/2] und die gesuchte Wahrscheinlichkeit 1/2 . 2) Alternativ können wir den Winkel zwischen der Geraden und der Tangente an den Kreis als Größe betrachten, die gleichwahrscheinlich alle Werte im Intervall [0; π ] annehmen kann. Der „günstige“ Winkelbereich ist hier [‒ π /6; π /6] und die gesuchte Wahrscheinlichkeit 1/3 . Es gibt noch andere ebenso plausible „Lösungen“. Hast du eine Idee? Recheriere im Internet! Der korrekte Umgang mit Wahrscheinlichkeiten ist also nicht einfach und steht (um den CHEVALIER DE MÉRÉ zu zitieren) tatsächlich oft „mit dem praktischen Leben“ und dem Hausverstand „nicht im Einklang“. Wie sonst ist es zu verstehen, dass Menschen auf einen Millionengewinn im Lotto Geld setzen, obwohl die Chance dafür nur rund 10 –8 ist, und dass sie Angst vor einem Haiangriff haben, der mit sehr viel geringerer Wahrscheinlichkeit ein- tritt. Neben der Wahrscheinlichkeit für den Eintritt oder Nichteintritt eines Ereignisses hat man eben auch dessen Folgen zu bewerten, was wiederum mit mathematischen Methoden gelingen kann. Nichts gegen den Hausverstand – aber die Ma- thematik kann er doch nicht ersetzen! S 189 F 2a F 2b Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=