Reichel Mathematik 6, Schulbuch
66 Exkurs 1 Die Idee beruht auf folgendem Analogieschluss: Nehmen wir an, es gäbe zweidimensionale Wesen von der Form von Kreisscheiben. Deren „Haut“ wä- re dann eine Kreislinie. Ein Arzt des dreidimensio- nalen Raumes könnte über die dritte Dimension auf jeden Punkt in deren Körperinneren zugreifen, ohne ihre Haut auch nur zu ritzen, indem er „von oben in den Kreis hineingreift“. Analog könnte ein Arzt des vierdimensionalen Raumes über die vierte Dimension in unseren drei- dimensionalen Körper „hineingreifen“. Er könnte unseren Körper aber auch via vierdimensionalen Raum völlig unblutig „umstülpen“ in dem Sinn, dass unser Herz sich danach auf der rechten statt auf der linken Seite befindet und aus der rechten Hand eine linke (und umgekehrt) wird. Wie das? Wieder hilft eine Analogie unserem bloß dreidi- mensionalen Vorstellungsvermögen nach. Zwei be- züglich einer Geraden s spiegelbildlich liegende Dreiecke können niemals zur „Übereinstimmung“ (Deckung) gebracht werden, solange die Dreiecke nur innerhalb der Ebene (dh. „zweidimensional“) bewegt werden dürfen. Über eine „dreidimensio- nale“ Drehung um s (Umklappung) kann man dies jedoch sofort erreichen, wobei sich der Umlaufsinn des gedrehten Dreiecks umdreht. Ein zweidimensionales Wesen erlebt dies so: Das Dreieck verschwindet für kurze Zeit (in dem für ihn nicht vorstellbaren dreidimensionalen Raum) und kommt nach einiger Zeit dann plötzlich in „umge- stülptem“ Zustand wieder zum Vorschein. Analog hat man sich die „Umstülpung“ via vierdimensiona- len Raum vorzustellen. Die Beschäftigung mit Fragestellungen dieser Art sind, wenn auch oft nur in vagen Andeutungen, weit zurück nachweisbar. So spricht zB der be- rühmte Philosoph Immanuel KANT (1724–1804) schon 1747 in seinem Aufsatz „Gedanken von den wahren Schätzen der lebendigen Kräfte“ aus: Dass er damit wirklich Bezug auf eine höhere als die 3. Dimension nehmen wollte, scheint sich aus einem später von ihm aufgegebenen „Rätsel“ able- sen zu lassen: Was meinst du? Die systematische Beschäftigung mit Fragestellun- gen dieser Art, insbesondere zur 4. Dimension , kam im Wesentlichen erst um die Mitte des 19. Jh. auf. Berühmt wurde zB der englische Schulmeister und Theologe E. A. ABBOTT mit seinem 1884 erschiene- nen Werk „Flatland“, indem er uns das Leben in ei- ner 2-dimensionalen Phantasie-Welt schildert. Auch wenn dieses Werk damals möglicherweise in erster Linie als Kritik an der viktorianischen Ge- sellschaft gedacht war, so ist „Flachland“ heute ein mit großem Vergnügen lesbares populärwissen- „Eine Wissenschaft von allen diesen möglichen Raumesarten wäre unfehlbar die höchste Geo- metrie, die ein endlicher Verstand unternehmen könnte…“ „Wenn ein Raum nichts enthielte als eine menschliche Hand, hätte es dann Sinn, diese Hand als rechte Hand zu bezeichnen?“ Ausflug in die vierte Dimension Kennst du die neue Schlüsselloch-Chirurgie, wo man fast ohne Verletzung der Körperoberfläche tief im Inneren des Körpers operieren kann? Wäre es nicht eine phantastische Sache, wenn jede solche Operation gänzlich ohne Hautschnitte auskäme? Leider ist diese phantastische Sache (bisher) bloß in der Phantasie durchführbar, nämlich über den vierdimensionalen Raum. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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