Reichel Mathematik 8, Schulbuch
118 Exkurs 3 Die gar nicht trivialen Begriffe „Flächeninhalt“ und „Rauminhalt“ Gibt es einen 2,72-dimensionalen Körper? Die überraschende Antwort ist: ja. Am vorderen Buchum- schlag kannst du ihn sehen – jedenfalls in erster Annäherung. Genau genommen ist es nämlich ein Körper, den wir gar nicht mehr zeichnen, sondern uns nur mehr vorstellen können. Dieses Gebilde heißt nach seinem Erfinder, dem österreichischen Mathematiker Karl MENGER (1902–1985), MENGER-Schwamm. Er entsteht wie folgt: Ausgehend von einem Würfel der Sei- tenlänge a wird in einem ersten Schritt das „mitt- lere Kreuz“ entfernt, dh. man denkt sich den Wür- fel in 27 kongruente Teilwürfel der Seitenlänge a/3 zerlegt und entfernt die „mittleren“ 7 Teilwür- fel. Jeden der übrigbleibenden 20 Teilwürfel be- handelt man in einem zweiten Schritt in analoger Weise, sodass weitere 20 × 7 Teilwürfel der Sei- tenlänge a/9 entfernt werden. In einem dritten Schritt werden die verbleibenden 20 × 20 Würfel- chen in analoger Weise durchlöchert, usw. Denkt man sich diesen Prozess bis in alle Ewigkeit fortgesetzt, so entsteht ein Körper, der die Be- zeichnung „Schwamm“ offenbar verdient: Denn trotz der unendlich vielen (immer kleiner werden- den) Löcher bleibt offenbar noch immer „viel“ Ge- rüstmaterial stehen. Der Rauminhalt (Materialver- brauch) V für dieses Gerüst lässt sich als Grenz- wert einer geometrischen Reihe berechnen: V = a 3 · “ 1 – 7· “ 1 _ 3 § 3 – 20·7· “ 1 __ 3 2 § 3 – 20 2 ·7· “ 1 __ 3 3 § 3 … § = = a 3 · “ 1 – 7 __ 27 · “ 1 + 20· 1 __ 27 + 20 2 · “ 1 __ 27 § 2 + … § § = = a 3 · “ 1 – 7 __ 27 · 1 ____ 1 – 20 __ 27 § = a 3 · “ 1 – 7 __ 27 · 27 __ 7 § = a 3 ·0 = 0 Das Ergebnis ist überraschend: Der MENGER- Schwamm besitzt also das Volumen null, obwohl er eine nichtleere Teilmenge des dreidimensiona- len Raumes ist. Lässt sich aøso der Schwamm aus nuøø Materiaø, sozusagen aus „Nichts“ erzeugen? Die Oberfläche dieses Schwamms besteht aus „Qua- dratgittern“ , die nach folgendem Rezept herge- stellt wurden: Ein Quadrat der Seitenlänge a wird in 9 (zum roten Quadrat kongruente) Quadrate der Seitenlänge a/3 zerlegt und das „mittlere Quadrat“ entfernt. Jedes der 8 verbleibenden Quadrate be- handelt man in einem zweiten Schritt in analoger Weise, sodass weite- re 8 Quadrate der Seitenlänge a/9 ent- fernt werden. In ei- nem dritten Schritt werden die verblei- benden 8 × 8 Quad- rate in analoger Weise durchlöchert, usw. Denkt man sich den Prozess wieder ewig fortgesetzt, so entsteht ein Gebilde, das als SIERPINSKI-Teppich bezeichnet wird. Den Flächeninhalt (Materialverbrauch) A dieses Teppichs erhält man als Grenzwert wie folgt: A = a 2 – “ a _ 3 § 2 – 8· “ a __ 3 2 § 2 – 8 2 · “ a __ 3 3 § 2 – … = = a 2 · “ 1 – 1 _ 9 · “ 1 + 8 _ 9 + “ 8 _ 9 § 2 + … § § = = a 2 · “ 1 – 1 _ 9 · 1 ____ 1 – 8 _ 9 § = a 2 · “ 1 – 1 _ 9 · 9 _ 1 § = a 2 ·0 = 0 Wieder ist das Ergebnis null, obwohl der Teppich eine nichtleere Teilmenge des zweidimensionalen Raumes ist. Lässt sich aøso der Teppich aus nuøø Materiaø, sozusagen aus „Nichts“ hersteøøen? Auf beide Fragen lautet die Antwort nein, schon deswegen, weil die Herstellung des Schwamms wie des Teppichs nach endlich vielen Schritten ab- geschlossen sein müsste (wofür unsere Vorgangs- weise aber stets einen von null verschiedenen Wert liefert). Wozu dann diese „Spintisierereien“? Diese „Spintisierereien“ gehen auf den polnischen Mathematiker Waclaw SIERPINSKI (1882–1969) zu- rück, der mit einem ähnlichen Objekt, dem SIER- PINSKI-Dreieck schon 1910 seinen Studenten be- greiflich machen wollte, dass der Begriff „Fläche(ninhalt)“ durchaus nichts Triviales ist. (Mit „trivi- al“ bezeichnet man in der Mathematik gerne et- was, was „völlig offensichtlich“ oder „selbstverständlich“ ist.) Damals wie heute F 1 F 1 F 2 Fig. 1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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