Reichel Mathematik 8, Schulbuch

119 3 wird der Begriff Fläche(ninhalt) wie selbstverständ- lich als Synonym für „zweidimensional(en Inhalt)“ verwendet – oftmals zu Recht, manchmal aber zu Unrecht. Das Missverständnis rührt daher, dass wir zur Ko- ordinatisierung einer Fläche zwei unabhängige Größen (wie x und y ) benötigen. Diese Größen be- schreiben/steuern die Bewegungsmöglichkeiten im Sinne der Basisrichtungen „links-rechts“ und „vor-zurück“ (und aller daraus (linear) kombinier- barer Zwischenrichtungen). In der Technik spricht man in diesem Zusammenhang von zwei Frei- heitsgraden (in der Bewegung). Wie sieht das aber auf unserem SIERPINSKI-Tep- pich aus ? Man kann zwar im Prinzip sowohl „links-rechts“ als auch „vor-zurück“ – aber fällt man da nicht gleich in ein „Loch“? Offenbar hat man zwar „mehr“ als nur einen Freiheitsgrad, aber doch „weniger“ als zwei ! Analog scheint man im MENGER-Schwamm im Prinzip drei Freiheitsgrade zu haben, aber wegen der Löcher doch wieder nicht! Den Mathematikern blieb also nichts anderes üb- rig, als die (allzu) gewohnten Begriffe „Flächen­ inhalt“, „Rauminhalt“ und „Dimension“ in ihrem Verhältnis zueinander genauer und kritischer zu betrachten. Kurz: es ging und geht um die Erweite- rung des Dimensionsbegriffs in einer mit dem ge- wohnten Dimensionsbegriff verträglichen Weise. Betrachten wir dazu nochmals den Entstehungs- prozess des SIERPINSKI-Teppichs . Jedes der im n-ten Schritt konstruierten „Quadratgitter“ ist ähnlich zu dem im ( n – 1 )-ten Schritt konstruier- ten „Quadratgitter“, und zwar mit dem Ähnlich- keitsfaktor 1/3 (bzw. 3 ). Begründe! Der Teppich ist also (je nach Leserichtung mit dem Faktor 1/3 bzw. 3 ) selbstähnlich . Gleiches gilt für den zugehörigen (ebenfalls gedanklich in 9 Teilquadrate zerlegten) gewöhnlichen Teppich. Im Unterschied zum gewöhnlichen Teppich braucht man jedoch nur jeweils 8 statt 9 Teilquadrate, um den SIERPINSKI-Teppich zusammenzusetzen. Für den gewöhnlichen Teppich ist die Anzahl N der benötigten Teilquadrate offenbar 3 2 , wobei die Ba- sis 3 vom Selbstähnlichkeitsfaktor p und der Exponent 2 von der Dimension d stammen. Allgemein gilt daher: N = p d oder d = ​  ønN ___ ønp ​ Diesen (aus unserer Anschauung gewonnenen) Zusammenhang benutzt(e) man zur Erweiterung des Dimensionsbegriffs auf Gebilde wie den SIER- PINSKI-Teppich, den MENGER-Schwamm und vie- le andere mehr. Für den SIERPINSKI-Teppich ist die Anzahl der benötigten Teilquadrate N = 8 und der Selbstähn- lichkeitsfaktor p = 3 , seine Dimension daher d = ​  øn8 __ øn3 ​ = 1,89 … Für den MENGER-Schwamm er- hält man analog d = ​  øn20 ___ øn3  ​= 2,72… Der Preis für diese Begriffserweiterung sind Di- mensionszahlen, die nicht mehr ganzzahlig sind sondern „gebrochen“ – daher der Name fraktale Dimension . Eine „Spintisiererei“ ist dieser Begriff jedoch nicht, drückt er doch etwas aus, was man mit dem gewöhnlichen Dimensionsbegriff und den damit verbundenen Begriffen Flächeninhalt und Rauminhalt , wie wir sie auch in der Integralrech- nung wie selbstverständlich benützen, so nicht kann! Insofern schärft die Mathematik unseren Blick und erweitert unser Repertoire an Begriffen zur Beschreibung „unserer Welt“. Fig. 3 Darüber hinaus beweist zB die dem SIERPINSKI- Teppich nachempfundene „fraktale“ Handy-An- tenne , die billiger, leistungsfähiger und auch praktischer ist als die früher üblichen „Stummel- Antennen“, dass die obigen Überlegungen durch- aus auch reale Anwendungen finden. Du siehst: Die abstrakte Mathematik von gestern ist die konkrete Technik von morgen! F  1 F  1 Fig.2 F  1 F  3 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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