Sexl Physik 8, Schulbuch
| 114 Neutrinos – die seltsame Geschichte von Poltergeistern 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 relative Häufigkeit der Elektronenenergie 2 6 10 14 18 Energie in keV 0 0,00004 0,00008 0,00012 18,45 18,5 18,55 18,6 Masse = 0 Masse = 30 eV 114.1 Links: Verteilung der Elektronenener- gie im β -Zerfall von Tritium ( 3 H ¥ 3 He+e – + – ν ). Die Kurve zeigt, dass bei etwa 3 keV die häufig- ste Elektronenenergie auftritt. Rechts: Am oberen Ende der Energieverteilung hängt die Häufigkeit deutlich von der Masse des Neutrinos ab. Die Messung dieses Teils der Kurve ist extrem schwierig, da von 1 Million Messpunkten nur etwa 10 in diesen Bereich fallen. 114.2 In diesem Tank mit 400 m 3 Perchlor- ethylen suchte R. d aVis mittels der Reaktion 37 Cl + ν ¥ 37 Ar +e – nach den solaren Neutrinos. 37 Ar hat eine Halbwertszeit von 35 Tagen, täglich wurde etwa ein Argonatom erzeugt. Nur etwa ein Drittel der erwarteten Neutrinos wurde gemessen. 114.3 In einem japanischen Bergwerk befin- det sich in 1 000 m Tiefe der Detektor Super- Kamiokande. Er enthält 50 000 m 3 Wasser, die Wände sind mit über 10 000 Photomultipliern „tapeziert“. Hier wurde nachgewiesen, dass atmosphärische Myon-Neutrinos beim Durch- gang durch die Erde ihre Identität wechseln. (Beachte das Schlauchboot rechts!) Die Erforschung der Neutrinos gibt einen interessanten Einblick in die Arbeits- weise der Physik und gleichzeitig in das bizarre Verhalten der Materie. Bis 1932 waren nur Proton und Elektron als Kernbausteine bekannt. Als man in den Jahren nach 1920 bei β -Zerfällen die Energien der emittierten Elektro- nen maß, stand man vor einem Rätsel: Beim Zerfall des Kerns in Tochterkern und Elektron sollten die Elektronen einen festen Bruchteil der frei werdenden Energie (Zerfallsenergie) davontragen. Die Elektronenenergie schwankte jedoch zufällig zwischen zwei extremen Werten. N iels b ohr wollte bereits die Gültig- keit des Energiesatzes aufgeben, sie sollte nur im statistischen Mittel erfüllt sein – so ausweglos erschien die Situation. Im Frühjahr 1930 löste w olFgaNg p auli (1900–1958) das Problem, indem er für den β -Zerfall die gleichzeitige Emission eines weiteren, aber unbeobachtbaren Teilchens vorschlug, er nannte es Neutron – heute wird es Neutrino genannt. Zeitgenossen nannten es scherzhaft Poltergeist, weil sein direkter Nachweis hoffnungslos erschien und es nur zur Rettung des Energiesatzes diente. 1932 entdeckte J aMes c hadwicK (1891–1974) das Neutron als schwereres neutrales Ge- genstück zum Proton. Damit erschien es plausibel, dass Elektron und Neutrino erst beim Zerfall entstehen. Die Zerfallsenergie verteilt sich auf Tochterkern, Neutrino und Elektron, deren Energien von den relativen Rückstoßrichtungen abhängen ( 114.1 ). Neutrinos treten nur sehr schwach mit Materie in Wechselwirkung. Daher konn- ten sie erst 1956 experimentell nachgewiesen werden. 1967 begann r ayMoNd d avis (1914–2006) in einem Goldbergwerk in 1600 m Tiefe, die von der Sonne kommenden Neutrinos nachzuweisen ( 114.2 ). In der Sonne entstehen bei der Fusion von Wasserstoff zu Helium Neutrinos ( ν e ). Aus der Strahlungsleistung der Sonne weiß man, wie viele Neutrinos auf der Erde ankommen sollten. Als Davis die Umwandlung von Chlor in Argon durch solare ν e untersuchte, fand er nur ein Drittel der vorhergesagten Neutrinos. War das Experiment fehlerhaft, hatte man falsche Vorstellungen von den Prozessen im Sonneninneren? Beides konnte widerlegt werden. Neue Rätsel stellten sich beim Versuch, Myon-Neutrinos ( ν μ ) nachzuweisen, die in der Atmosphäre durch die kosmische Strahlung erzeugt werden: Gibt es ei- nen Unterschied, wenn sie von oben durch 1 km Gestein oder von unten durch 12 000 km zum Detektor gelangen? Erstaunlicherweise kommen von unten nur halb soviele ν μ wie von oben. Wie löst sich das Rätsel? Ein raffiniertes Experiment am Sudbury Neutrino Observatory in Kana- da brachte einen Teil der Lösung: Der Detektor enthält 1000 m 3 schweres Wasser (D 2 O), Wasser mit dem Isotop Deuterium. Wenn sich geladene Teil- chen durch das Wasser schneller als das Licht bewegen, senden sie Che- renkov-Strahlung (Licht) aus und können dadurch nachgewiesen werden. Solare ν e können zweierlei Reaktionen auslösen: Beim Stoß mit einem Neutron können sie dieses in ein Proton und sich in ein Elektron verwandeln, beim Stoß mit einem Proton können sie nur elastisch gestreut werden. ν μ und ν τ können bei gleicher Energie nur elastisch streuen. Man fand: Die elastische Streuung erfolgt so häufig, wie entsprechend der Kernfusion in der Sonne zu erwarten war. Die Erzeugung von Elektronen erfolgt aber mit einem Drittel der erwarteten Rate. Dieses Ergebnis bedeutet: Zwei Drittel der in der Sonne entstandenen Neutrinos vom Typ ν e haben sich am Weg zur Erde in ν μ und ν τ verwandelt und können daher keine Elektronen erzeugen. Ähnlich werden das ν μ -Experiment ( 114.3 ) und weitere Experimente gedeutet: Neutrino-Oszillationen Neutrinos können periodisch ihren Typ ändern. Diese Oszillationen sind nur möglich, wenn die Neutrinos unterschiedliche Mas- se besitzen. Nu zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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