Zeitbilder 5/6, Schulbuch
Der Sozialismus – Utopie einer neuen Gesellschaftsordnung Die völlige Eigentumslosigkeit und das soziale Elend des Industrieproletariats wurde vom herrschenden Bür- gertum nicht als verbesserungswürdig angesehen. Das Ideal des freien, sich selbstbestimmenden Individuums in einer liberal-kapitalistischen Wirtschaftsordnung galt für das Bürgertum, aber nicht für die Arbeiterschaft. Um menschenwürdige Lebens- und Produktionsbedingun- gen zu erreichen, musste der „Vierte Stand“ zur Selbst- hilfe greifen. Einzelne Männer aus Wirtschaft, Politik und Wissen- schaft lehnten jedoch die liberale Wirtschaftsordnung mit ihrer egoistischen Profitgier ab. Sie stellten ihr eine Gesellschaftsordnung entgegen, in der jeder Einzelne der Gesamtheit gegenüber verantwortlich sei. Dieser „Sozialismus“, setzte aber eine völlige Veränderung des bestehenden Gesellschaftssystems voraus. Die Lösungsmodelle der „Frühsozialisten“ Die frühen Sozialisten boten dafür unterschiedliche, in zwei Hauptrichtungen zielende Lösungsmodelle an. Aufbau einer neuen Gesellschaft durch: genossenschaftlichen Zusammenschluss kleine- –– rer Gruppen ohne staatlichen Einfluss (z. B. Robert Owen), eine grundlegende Änderung des Staatswesens (z. B. –– Louis Blanc). Der Unternehmer Robert Owen (1771–1858) beschäftig- te schon um 1800 in seiner Fabrik in Schottland keine Kinder unter 10 Jahren, begrenzte die Arbeitszeit auf 10 3 / 4 Stunden und sorgte auch für eine menschenwür- dige Unterbringung seiner Arbeiter. Owen, der Begrün- der des britischen Sozialismus, wollte eine Gesellschaft, in der die Menschen harmonisch zusammenarbeiten und sich den erwirtschafteten Gewinn teilen. Er selbst organisierte solche Produktionsgenossenschaften, die aber erfolglos blieben. 1834 gründete Owen eine der ersten Gewerkschaften. Sie hatte einen gewaltlosen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus zum Ziel. Innerhalb weniger Monate soll diese Organisation eine halbe Million Mitglieder gehabt haben. Doch auch sie scheiterte – vor allem wegen der fehlenden Kommuni- kation und Koordination innerhalb der Arbeiterschaft und wegen der Regierung, die all ihre Machtmittel ge- gen diese Bewegung einsetzte. Radikaler war der französische Philosoph Pierre Proud- hon (1809–1865). Er erklärte Eigentum als Diebstahl, wenn es aus Kapital oder Grundbesitz stammte und nicht durch Arbeit erworben wurde. Für ihn waren Geld (und Zinsen) das große Übel. Er wollte daher, ähnlich wie Owen, eine Tausch- anstelle der Geldwirtschaft. Sein Landsmann Louis Blanc (1811–1882) wiederum forderte das Recht auf Arbeit und vom Staat die Schaf- fung von Arbeitsplätzen. Nach seiner Meinung sollten alle Betriebe in Staatsbetriebe umgewandelt und von den Arbeitern selbst verwaltet werden. Der Versuch, seine Ideen umzusetzen, scheiterte in der Revolution von 1848 (vgl. S. 213 f.). Marx – Sozialismus als Wissenschaft Alle diese Theorien erfassten nur Teilaspekte des an gestrebten Sozialismus. Erst Karl Marx (1818–1883) und sein Freund Friedrich Engels (1820–1895) stellten eine umfassende Theorie auf. Entscheidend für die Entwick- lung von Staat und Gesellschaft ist für sie die „materi- elle Basis“, d. h. die wirtschaftlichen Verhältnisse. Sie sind der „Unterbau“ der jeweiligen Gesellschaft, auf dem sich ein entsprechendes politisches, rechtliches, kulturelles und religiöses Bewusstsein der Menschen in einer Zeitepoche entwickelt (= „Überbau“): Q Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein bestimmt, sondern umgekehrt ihr gesell- schaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. (Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie) Erklärt diese Aussage mit eigenen Worten und analy- siert sie kritisch in der Klasse. Welche wirtschaftlichen Verhältnisse und welchen „Überbau“ haben wir heute in Österreich? Nach Marx und Engels ist der Lauf der Geschichte ge- prägt von der Veränderung der „Produktionsverhältnis- se“, d. h. der „Eigentumsverhältnisse an den Produkti- onsmitteln“: Q Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen (…). Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager (…): Bourgeoisie und Proletariat. (Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848) Ist diese Aussage von der Spaltung der Gesellschaft auch heute gültig? Begründet eure Meinung. Für Marx war Geschichte ein unabänderbarer, nach be- stimmten Naturgesetzen ablaufender Prozess. Er war überzeugt, dass der Sozialismus durch eine Revolution den Kapitalismus ablösen würde. Voraussetzung für die Revolution wäre aber eine kampfbereite, internati- onal organisierte Arbeiterschaft. Erst damit könnte das Endziel der geschichtlichen Entwicklung, nämlich eine klassenlose Gesellschaft ohne private Eigentümer an Produktionsmitteln (= Kommunismus), erreicht werden. Analyse des Kapitalismus Nach Marx ist die bürgerliche Gesellschaft in höchs- tem Maß ungleich. Auf der einen Seite stehen die Ei- gentümer an Produktionsmitteln, die „Kapitalisten“. Ihnen gegenüber steht die Masse der besitzlosen Lohn- arbeiter, die „Proletarier“, die nur ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen können. Obwohl die Proletarier viel 6. Sozialismus und andere Lösungsversuche 206 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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