Zeitbilder 7, Schulbuch
ihren sozialen Milieus, stellten ihre Berufswünsche um, schlossen sich Gruppen an und wurden kurzfris- tig „Berufsrevolutionäre“. (Rabehl, Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik, 1998, S. 39) Ab Herbst 1968 begann sich die APO zu zersplittern. Die Frauen kritisierten die Unterdrückung durch ihre männlichen Kollegen und zogen aus dem Sozialisti- schen Deutschen Studentenbund (SDS) aus. Der größte Teil der protestierenden Studierendenbewegung wand- te sich in der Folge der SPD (Sozialdemokratische Par- tei Deutschlands) unter dem damaligen Kanzler Willy Brandt zu. Die RAF und der Terror Ein sehr kleiner Teil der protestierenden Studierenden ging als Terroristinnen und Terroristen in den Unter- grund. Die RAF (Rote-Armee-Fraktion, zunächst mit Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan C. Raspe) wurde gegründet. Ihr Ziel war es, die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu zerstören. Sie wurde als „imperialistisches System“ abgelehnt. „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Diese Gruppe sollte in den nächsten Jahren immer wie- der durch Attentate und Überfälle auf sich aufmerksam machen. Im Jahr 1972 wurden die führenden Köpfe der RAF schließlich verhaftet und verurteilt. Ulrike Meinhof starb 1976 im Gefängnis. Doch die schlimmsten Terroranschläge verübte die „Zweite Generation“ der RAF-Terroristen im Jahr 1977: Ermordung des Generalbundesanwaltes Buback, des Bankiers Ponto und des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer. Diese galten als Vertreter des Systems, das sie stürzen wollten. Erst im Jahr 1993 galt die RAF als zer- schlagen. Mehrere RAF-Mitglieder wurden zu lebens- langen Freiheitsstrafen verurteilt, sind mittlerweile aber aus der Haft entlassen. Und in Österreich? – „Schluss mit der Wirklichkeit“ Im Vergleich zu Deutschland, Italien und Frankreich war die Situation in Österreich kaum revolutionär gestimmt. Aber es ging auch hier um die Frage: „Wie lange kann die Zweite Republik mit einer unbewältigten Vergangenheit leben?“ (Paul Lendvai). Anlässlich einer Demonstration von Studierenden im Jahr 1965 gegen den Hochschulprofessor Borodajkewycz wegen dessen nationalsozialistischer und antisemitischer Äußerungen gab es ein Todesopfer. Ernst Kirchweger, ein ehemaliger Widerstandskämpfer, wurde von einem rechtsextremen Studenten niedergeschlagen und dabei tödlich verletzt. Er ist das bisher einzige innen- politisch motivierte Todesopfer der Zweiten Republik. Die Ereignisse im Jahr 1968 selbst gestalteten sich dann in ei- ner „heißen Viertelstunde“ eher aktionistisch: L Der Wiener Aktionismus hat die Öffentlichkeit tief verstört. Die Veranstaltung „Kunst und Re- volution“ am 7. Juni 1968 im Neuen Institutsgebäu- de der Wiener Universität beleidigte die österreichi- schen politischen Symbole, verletzte alle Standards der zivilisierten Gesellschaft. In den theoretischen Texten tobte sich der Anarchismus als Zerstörungs- wut gegen alle Strukturen – Staat, Religion, Kunst – aus. „Österreicher, schmeißt die Würdenträger über die Rampen. (...) Weg mit dem Wahnsinn des Alltags! Schluss mit der Wirklichkeit.“ (Hanisch, Der lange Schatten des Staates, 1994, S. 482) Einige (langfristige) Folgen Zumindest indirekt können einige wesentliche Verän- derungen in Schule und Gesellschaft auf die 1968er Bewegung zurückgeführt werden: Zum Beispiel die Koedukation ab 1974 in allen öffentlichen Schulen; das Zivildienstgesetz (1974); das Schulunterrichtsge- setz von 1974 mit erstmaligen Mitbestimmungsrechten für Eltern- und Schülervertreter; die „Fristenlösung“ (Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate) seit 1. 1. 1975. Unterschiedliche Einschätzungen 40 Jahre danach sind die Einschätzungen widersprüch- lich: L Die einen sehen in den Aktivisten von 1968 keine Neuerer sondern irrational Getriebene, welche die Krise mehrere Jahre lang verstärkten. Andere meinen, dass die Revolte einen Modernitäts- schub, mehr Partizipation und eine Entprovinziali- sierung der Gesellschaft bewirkte. Eine Engführung auf einen politischen Radikalismus gehe am Kern der Sache vorbei. (Nach Aly (2008): Unser Kampf 1968, S. 207 ff u. Birke 2009, S. 209 f.) Fragen und Arbeitsaufträge 1. Arbeite die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Ziele der 68er-Proteste heraus. Bewerte sie hinsichtlich ihrer histori- schen Bedeutsamkeit. W Studentenunruhen 1968: Demonstration auf dem Kurfürstendamm anlässlich des Attentats auf Rudi Dutschke (am 11. April). Die Polizei setzte Wasserwerfer ein. Fotografie, 13. 4. 1968. 159 5 Die Vielfalt der sozialen Welt Nur zu Prüfzwe ken – Eigentum des Verlags öbv
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