Zeitbilder 7, Schulbuch
165 5 Zweite Frauenbewegung, Frauenemanzipation und der Wandel der Familie tisch nieder. Die Trennung von „sex“ (als biologisch- anatomisches Geschlecht) und „gender“ (als Ge- schlechtsidentität und sozial-kulturelle Dimension von Geschlecht) ist seit den 1970er-Jahren in der feministischen Theorie gebräuchlich. Sie stammt al- lerdings nicht aus der Frauen- und Geschlechterfor- schung sondern aus dem medizinischen Kontext der Behandlung Trans- und Intersexueller in den 1960er- Jahren. (Degele, Gender/Queer Studies, 2008, S. 66 f.) M5 Die Frauenforscherinnen Regina Becker-Schmidt und Gudrun Axeli-Knapp beleuchten Facetten der Sex-Gen- der-Debatte: Die (1920 in Wien geborene; Anm. d. A.) amerikani- sche Historikerin Gerda Lerner findet zur stillschwei- gend angenommenen Auffassung, dass es aus- schließlich die biologische Zweigeschlechtlichkeit der Menschengattung gibt, folgende repräsentative Formulierung: „Das sexuelle Geschlecht ist eine bio- logische Gegebenheit für Männer und Frauen. Die geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen an Frau- en und Männer stellen eine kulturabhängige Defini- tion von Verhalten dar, das als den Geschlechtern in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit angemessen gilt. Diese kulturspezifische Bestim- mung der Geschlechterrollen ist also ein historisch bedingtes Produkt.“ Demgegenüber gibt es jedoch eine Weiterentwick- lung der Forschung in der Frage des biologischen Geschlechts: „In den Neunzigerjahren wurden nicht mehr nur die Auslegung des Geschlechtsun- terschieds und die Existenzweisen von Frauen und Männern als geschichtliche aufgefasst, sondern der biologische Dimorphismus selbst, die körperliche Zweigeschlechtlichkeit, nicht als von Natur aus ge- geben, sondern als kulturell spezifische Form der Klassifikation in den Blick genommen. (…) Schließ- lich spielten auch neuere Ergebnisse biologischer Forschung eine Rolle; die Biologie nimmt keine so trennscharfe Klassifizierung von Geschlechtlichkeit vor wie das Alltagsverständnis der Gesellschaft. Weibliches und männliches Geschlecht (sex) wurden in dieser Forschung nicht mehr als zwei entgegenge- setzte, einander ausschließende Kategorien verstan- den, sondern vielmehr als Kontinuum, bestehend aus dem genetischen Geschlecht, dem Keimdrüsenge- schlecht und dem Hormongeschlecht.“ (Becker-Schmidt /Axeli-Knapp, Feministische Theorien zur Einführung, 2001, S. 65 ff.; Bearb.d. A.) M6 Die Frauenforscherin Regina Gildemeister schreibt zum Konzept des „Doing gender“: Das Konzept des „Doing gender“ ist in der Geschlech- terforschung zu einem Synonym für die Perspektive einer „sozialen Konstruktion von Geschlecht“ gewor- den. „Doing gender“ zielt darauf ab, Geschlecht bzw. Geschlechtszugehörigkeit nicht als Eigenschaft oder Merkmal von Individuen zu betrachten, sondern jene sozialen Prozesse in den Blick zu nehmen, in denen „Geschlecht“ als sozial folgenreiche Unterscheidung hervorgebracht und reproduziert wird. In diesem Sin- ne ist das Konzept des „Doing gender“ eine Antwort auf die nur auf den ersten Blick einfache Frage: Wie kommt es zu einer Zweiteilung der Gesellschaft in „Frauen“ und „Männer“? (…) Ein erster Schritt, die einfache Verkoppelung von „Geschlecht“ mit Natur und Biologie zu durchbrechen, erfolgte in den 50er- Jahren in der angelsächsischen Sexualwissenschaft mit der Trennung von „sex“ und „gender“. Diese Unterscheidung wurde von der Frauenforschung der 70er Jahre aufgenommen. Mit „sex“ war das im en- geren Sinn biologische Geschlecht angesprochen: Anatomie, Physiologie, Morphologie, Hormone und Chromosomen. Der Terminus „gender“ dagegen zielte auf das „soziale Geschlecht“ im Sinne seiner sozialen und kulturellen Prägung. Im Mittelpunkt stand die kulturelle Variabilität der an Frauen (und Männer) gerichteten Verhaltenserwartungen, Eigen- schaftszuschreibungen und sozialen Positionierun- gen, die eng mit der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern korrespondieren. Die Unterscheidung von „sex“ und „gender“ richtete sich damit gegen die in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft verbrei- tete „Natur der Frau“ - Argumentation. Die soziale Ordnung und vor allem die soziale Ungleichheit der Geschlechter wurden nicht als Folge körperlicher Differenzen gesehen, sondern in den Kontext sozio- kultureller Normierungen gestellt. Diese, so wurde betont, seien historisch spezifisch und daher wandel- bar. (Gildemeister, Soziale Konstruktion von Geschlecht. In: Witz (Hg.), Geschlechterdifferenzen Geschlechterdifferenzierungen, 2008, S. 16 –198; bes.: S. 167 f.) Fragen und Arbeitsaufträge 1. Bildet zwei Gruppen und studiert jeweils eine der zwei Literaturstellen M2 und M3. Arbeitet heraus und benennt: Rollenbilder und Rollenerwartungen an Mütter und Väter anhand von M2 sowie Vorstellungen darüber, mit welchen Erwartungen und Leistungsansprüchen Familien heute konfrontiert sind anhand von M3. Bezieht in eure Überle- gungen auch die Aussage der Vereinten Nationen zur Fami- lie (M1) mit ein. Stellt die Ergebnisse in der Klasse vor und diskutiert darüber. 2. Erläutere anhand der Literaturstelle M4, was unter so- zialer Konstruktion von Geschlecht zu verstehen ist. Ana- lysiere anhand der Literaturstelle M6, wie diese soziale Konstruktion von Geschlecht erfolgen kann. 3. Arbeite anhand der Literaturstellen M5 und M6 die Un- terscheidung zwischen „sex“ und „gender“ heraus. Disku- tiert die jeweils vorgebrachten Argumente. 4. Arbeite anhand der Literaturstelle M5 heraus, wie neu- ere Forschungen auch die körperliche Zweigeschlecht- lichkeit („sex“) weiter differenzieren. Informiere dich dazu auch im Biologieunterricht. Nur zu Prüfzwe ken – Eigentum des Verlags öbv
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