Zeitbilder 7, Schulbuch
174 Kompetenzmaterial M1 Die Historikerin Angelika Ebbinghaus und der Historiker Marcel van der Linden stellen die Frage, für welchen Zeitraum „1968“ steht: Die wichtigsten Ereignisse, politischen Hoffnungen und Enttäuschungen des Jahrs 1968 möchten wir zu- mindest kurz hier benennen, um die Dichte der Zeit zu vergegenwärtigen. Viele dieser Ereignisse wirkten weit über dieses Jahr hinaus. Am 30. Januar begann die Tet-Offensive, die – wenn auch nicht sofort – eine Wende im Vietnamkrieg brachte. Martin Luther King und Robert F. Kennedy wurden ermordet. Rassenun- ruhen und gewaltsame Proteste in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß erschütterten die USA. In Westeuropa – in Frankreich, Italien und der Bun- desrepublik – gingen Studierende und Jugendliche, aber auch ArbeiterInnen und Angestellte auf die Straße. Sie stellten die Eliten dieser Nachkriegsge- sellschaften samt ihren Werten grundsätzlich infrage und damit auf eine harte Probe. Im Mai 1968 herrsch- te in Frankreich der Ausnahmezustand. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 kam es in der BRD zu heftigen Protesten. Im Frühjahr 1968 war die Hälfte der 36 italienischen Universitäten be- setzt. Gleichzeitig legten Streiks und Betriebsbeset- zungen weite Teile der italienischen Industrie lahm. In diesem Jahr hatten sich auch in Ostmitteleuropa die politischen Ereignisse zugespitzt. In Polen und Jugoslawien rebellierten Studierende und die dort herrschenden Eliten reagierten ähnlich unverhältnis- mäßig wie im Westen. In Ostmitteleuropa ist das Jahr 1968 jedoch vor allem mit den politischen und wirtschaftlichen Reformver- suchen in der Tschechoslowakei verbunden, die als „Prager Frühling“ in die Geschichte eingegangen sind. Die militärische Niederschlagung dieses Re- formexperiments hatte immense politische Auswir- kungen nicht nur für die CSSR und die anderen Ost- blockstaaten, sondern auch für alle sozialistischen und kommunistischen Parteien weltweit und darüber hinaus für alle diejenigen, die im Sozialismus ein besseres Gesellschaftsmodell als im Kapitalismus sa- hen. (Ebbinghaus/ van der Linden, 1968 – Ein Blick auf die Protestbewe- gungen 40 Jahre danach. In: ITH-Bericht, Nr. 43, 2009, S. 9) M2 Die Historikerin Angelika Ebbinghaus und der Historiker Marcel van der Linden schreiben über „die 68er“: Dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Zahl der Ju- gendlichen, die eine mittlere und höhere Bildung durchliefen, weltweit stark zugenommen hat, ist si- cher ein weiterer Grund für das Entstehen der 68-er Bewegungen. Denn mit dieser quantitativen Zunah- me wuchs auch der gesellschaftliche und politische Einfluss der Studierenden und SchülerInnen. Zwi- schen 1960 und 1980 stieg ihre Zahl im europäischen Durchschnitt um das Drei- bis Vierfache. Doch die Ausbildungs- und Universitätsstrukturen waren dem Andrang der vielen Studierenden und Auszubilden- den nicht gewachsen. Die Hochschulen wurden zu Massenuniversitäten – eine Entwicklung, die vielfäl- tige Probleme mit sich brachte. (…) Während in frü- heren Zeiten die Intelligenz meist politisch konser- vativ bis rechts eingestellt war, hatten die 68erInnen politisch linke bis linksradikale Auffassungen. (…) Die TrägerInnen der 68-er Bewegungen waren mehr- heitlich junge Erwachsene, Studierende, Schülerin- nen/Schüler, aber auch junge Arbeiterinnen/Arbei- ter und Angestellte. Es handelte sich also im Kern um Jugendbewegungen, die allerdings nicht auf eine so- ziale Schicht beschränkt waren. Für sie zählten nicht mehr nur die Männer zu den politischen Akteuren, sondern ebenso die Frauen. Die von ihnen geschaf- fene Gegenkultur zeigte sich im Alltagsverhalten, in der Kleidung, in der Einstellung zur Sexualität oder in der Haltung gegenüber Drogen. Auch in der Kunst, im Film, im Theater und in der Musik kam diese Ge- genkultur zum Ausdruck. Vor allem die Rock- und Beatmusik trug viel zum verbindenden Lebensgefühl der 68erInnen bei. Ein weiteres Charakteristikum dieser Bewegungen waren die Aktionsformen des Protests. Die von der amerikanischen Bürgerrechts- bewegung übernommenen Protestformen des zivilen Ungehorsams – Sit-ins, Teach-ins, Happenings und gezielte Regelverletzungen – wurden in vielen Län- dern ausprobiert. (Ebbinghaus/ van der Linden, 1968 – Ein Blick auf die Protestbewe- gungen 40 Jahre danach. In: ITH-Bericht, Nr. 43, 2009, S. 11 ff.) M3 Der Jugendforscher Benno Hafeneger spricht von einer „neuen Lust an der Einmischung“: Die Jugendproteste in mehreren westeuropäischen Ländern wie Griechenland, Spanien, Großbritan- nien, Italien, Deutschland und auch Israel, Chile und den USA haben in der zweiten Hälfte des Jah- res 2011 zur Sympathie und Verwunderung sowie zu aufgeregten politischen und öffentlich-medialen Diskussionen geführt. Das Jahr 2011 war ein viel- schichtiges Krisenjahr und die Proteste hatten viele Gesichter, unterschiedliche Dynamiken und Ziele. Es war in Griechenland, Israel, Spanien und Chile mehr der Protest aus den Mittelschichten und der (akade- misch) gebildeten jungen Generation, dagegen ka- men in Großbritannien die eruptiven Krawalle von Jugendlichen aus den unteren sozialen Schichten; die Occupy-Bewegung in den USA, Deutschland und vielen anderen Ländern wurde wiederum vor allem von der akademischen Jugend und aus den Mittel- schichten getragen. (Hafeneger, Jugendproteste im Jahr 2011. In: Neue Praxis 3/2012, S. 295-308, bes. S. 295) M4 Der Jugendforscher Benno Hafeneger meint zum Pro- testverhalten der Jugendlichen angesichts riesiger Jugendarbeitslosigkeit (50% in Griechenland und Spani- en), Perspektivenlosigkeit und staatlicher Krisenpolitik: Vor dem Hintergrund der starken Betroffenheit gro- ßer Teile der jungen Generation von der ökonomisch- 9. Protestbewegung – 1968 und in der Gegenwart? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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