Zeitbilder 7, Schulbuch
Zuzug von ausländischen Arbeitskräften interessiert (Arbeitszuwanderung). Viele dieser Menschen haben sich in der Folge dann mit ihren Familien dauerhaft in Österreich niedergelassen. Das war in Österreich, wie in vielen europäischen Staaten, zunächst nicht vorgese- hen: „Wir haben Arbeitskräfte gerufen und Menschen kamen“ (Max Frisch 1965, S. 7). Die Zahl der Einwan- derungswilligen lag in jenen Jahren bis 1987 bei etwa 20000 Personen jährlich. Der Anteil der Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit an der Gesamt- bevölkerung stieg bis 1974 auf 4%. Dieser Wert blieb bis Ende der 1980er-Jahre konstant. Doch seit damals veränderte sich die Situation deutlich. Ein wesentlicher Grund waren zunächst die massenhaften Fluchtbewe- gungen, ausgelöst durch den Umbruch in Osteuropa (1989): Aufgrund der Kriege und ethnischen Säuberun- gen im zerfallenden Jugoslawien (Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo) kam es zu einer Massen- flucht aus diesen Balkanländern nach Westeuropa, dar- unter auch nach Österreich. Der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer in Ös- terreich stieg Anfang der 1990er-Jahre auf über 8% an. Bis 1993 kamen ca. 330000 Menschen mehr nach Öster- reich als aus Österreich abwanderten. Allerdings kamen in den Jahrzehnten davor immer wie- der große Flüchtlingsströme nach Österreich: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fanden rund 350 000 Flüchtlinge und Vertriebene in Österreich eine bleibende Aufnahme und erhielten anschließend die Staatsbürgerschaft. 1956 flüchteten ca. 200000 Men- schen aus Ungarn, rund 20000 von ihnen blieben dau- erhaft (vgl. S. 124). Nach der Niederschlagung des Pra- ger Frühlings (1968) kamen rund 160000 Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei und 1981 flüchteten 35000 Menschen aus Polen nach Österreich. Mehrere Tausend von ihnen blieben. Eine weitere Gruppe von Migrantin- nen und Migranten waren die jüdischen Flüchtlinge aus der Sowjetunion. Rund 250 000 Menschen dieser Grup- pe wurden zwischen 1973 und 1989 durch Österreich in die USA oder nach Israel geschleust. „Das Boot ist voll“ – ist das Boot voll? So tönte es Anfang der neunziger Jahre panisch durch ganz Europa. Man war auf die massenhaften Fluchtbe- wegungen aus Ost- und Südeuropa nicht vorbereitet. Verständnislosigkeit und Ablehnung machten sich be- merkbar. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit führte zu verstärk- ten Vorbehalten in der Bevölkerung gegenüber aus- ländischen Arbeitskräften. In Österreich nahmen Res- sentiments, manchmal sogar offene Gegnerschaft ge- gen Ausländerinnen und Ausländer zu, ob sie nun als Flüchtlinge oder als Arbeitssuchende kamen. Diese un- geklärte Situation gegenüber Ausländerinnen und Aus- ländern griff die FPÖ auf: Sie brachte ein Volksbegeh- ren ein mit dem Titel „Österreich zuerst“. Darin wurde eine strengere Politik gegenüber Ausländerinnen und Ausländern verlangt. Das wurde mit „Sicherheits“- Bedürfnissen der Österreicherinnen und Österreicher, aber auch der im Land lebenden Ausländerinnen und Ausländer (als Asylwerberin oder Asylwerber bzw. als Gastarbeiterin oder Gastarbeiter) begründet. Die übri- gen Parteien und die Kirchen nahmen in breiter Front gegen dieses Volksbegehren Stellung. Der damalige Caritas-Präsident Schüller, ein in Ausländerfragen all- seits anerkannter Experte, verwies auf die Diskussions- würdigkeit mancher Forderungen des Volksbegehrens. Das betraf etwa die Entspannung der Schulsituation für fremdsprachige Kinder oder eine wirkungsvollere Be- kämpfung der organisierten Kriminalität. Das Volksbe- gehren hatten 1993 schließlich 416531 Österreicherin- nen und Österreicher unterschrieben. Gegen das Volks- begehren fanden in vielen Städten zahlreiche Aktionen statt. Den Höhepunkt bildete das „Lichtermeer“ in der Wiener Innenstadt. Bei der bis dahin größten Demonst- ration in der Zweiten Republik demonstrierten mehr als 200000 Menschen gegen Ausländerfeindlichkeit und warben für mehr Mitmenschlichkeit. Fremde, kommt ihr nach Ö... Bis in die 1980er-Jahre war Österreich das Ziel von Ar- beitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten hauptsäch- lich aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei. In den 1990er-Jahren hingegen war Österreich das Ziel von Flüchtlingen v.a. aus Bosnien und dem Kosovo. Seit W Gegen das FPÖ-Volksbegehren „Österreich zuerst“ gab es in Wien eine Großdemonstration, das so genannte Lichtermeer, an dem etwa 200000 Menschen teilnahmen (Fotografie, 23. Jänner 1993). 177 5 Die Vielfalt der sozialen Welt Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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