Zeitbilder 7, Schulbuch

22 Kompetenzmaterial M1 Über die Inflation in Deutschland im Jahr 1923: Im Herbst 1923 wurde in jedem Betrieb und an den Fürsorgestellen jeden Nachmittag Geld ausbezahlt. Kinder und Mütter standen schon an der Straßenecke bereit, den „Ernährer“ zu empfangen und nach ei- nem genauen Einkaufsplan alles Geld sofort in Ware umzusetzen. Schon am nächsten Morgen waren die Scheine, die man nicht ausgegeben hatte, so gut wie wertlos. – Wenn ein Betrieb hundert Leuten den Ta- geslohn auszahlen musste, brauchte er einen großen Waschkorb voll Geld. Einmal ließen die beiden Kas- senboten einer Fabrik einen solchen Waschkorb voll Geld einige Minuten unbewacht im Fabrikhof stehen. Als sie zurückkamen, war der Waschkorb gestohlen, das Papiergeld hatten die Diebe zurückgelassen. Der Korb war ihnen wertvoller als sein Inhalt. Die Inflation verschärfte die Spannungen zwischen arm und reich. Denn die Gruppen im Volk, die Sach- werte besaßen, die Gutsbesitzer, die Großbauern, die Besitzer von Werkstätten und Betrieben, wurden durch die Inflation kaum geschädigt. Im Gegenteil! Grundbesitz, Fabrikgelände, Maschinen und Wohn- häuser blieben wertbeständig, und die Eigentümer konnten 1923 mit fast wertlosem Geld ihre Schul- den leicht bezahlen. „So wurden die Reichen rei- cher, während die Armen noch ärmer wurden“ (Golo Mann) – eine Entwicklung, die den radikalen Partei- en von links und rechts einen Massenzulauf von ent- täuschten und verzweifelten Menschen brachte. (Hagener, in: Die Reise in die Vergangenheit, Bd. 4, 1989, S. 124) M2 Der deutsche Außenminister Gustav Stresemann auf einer Pressekonferenz 1928: Ich möchte Sie bitten, bei Ihren Beurteilungen der wirtschaftlichen Lage Deutschlands und auch der an- deren hiermit zusammenhängenden Fragen den Ge- danken zugrunde zu legen, daß wir in Deutschland in den letzten Jahren von gepumptem Geld gelebt ha- ben. Wenn einmal eine Krise bei uns kommt und die Amerikaner ihre kurzfristigen Kredite abrufen, dann ist der Bankrott da. Was wir an Steuern erheben, geht bis an die Grenze dessen, was ein Staat überhaupt tun kann. Ich weiß nicht, woher neue Steuern geholt werden können. Die Statistiken zeigen, wieviel die Städte gebraucht haben, wieviel die Industrie ge- braucht hat, wieviel fremdes Geld wir überhaupt auf- genommen haben, um uns aufrecht zu erhalten. Wir sind nicht nur militärisch entwaffnet, wir sind auch finanziell entwaffnet. Wir haben keinerlei eigene Mittel mehr. (Stresemann, Vermächtnis, Bd. III, 1932, S. 385) M3 Die „Goldenen Zwanzigerjahre“ oder „The Roaring Twen- ties“ gelten als ein Jahrzehnt der Widersprüche: Ein Beispiel für die Ambivalenz der Goldenen Zwan- zigerjahre zeigt sich im Bereich der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Einerseits gab man sich in intellektuellen Kreisen aufgeschlossen gegenüber Homosexualität und interessiert an einer Reform tra- ditioneller Rollenbilder. Virginia Woolf, Mitglied der „Bloomsbury Group“, einer progressiven Gruppe von Schriftstellern und Künstlerinnen in London, hat (…) jedoch eindrücklich beschrieben, wie halbherzig die Emanzipation von Frauen ihrer Zeit verlief. In ih- rer berühmten Schrift „A Room of One´s Own“ (1929) forderte Woolf für jede wissbegierige junge Frau „fünfhundert (Pfund) im Jahr und ein Zimmer“ für sich allein, nebst Mut und dem Verzicht auf Kinder- reichtum. Gerade das aber war für viele Frauen aus der Unterschicht nicht möglich. Sexualreformerinnen und fortschrittliche Ärzte engagierten sich zwar für einen günstigen Zugang zu Verhütungsmitteln. Doch allzu viele Frauen, ledige und verheiratete, erlebten noch immer eine unerwünschte, weil materiell, sozial oder gesundheitlich bedrohliche Schwangerschaft. (Hürliman „The Roaring Twenties“ – Licht und Schatten eines Jahr- zehnts, S. 67. In: Geschichte der Neuzeit, 2009) M4 Über die „neue Frau“ der Zwanzigerjahre: Die für die Zwanziger Jahre typische Mode war nicht einfach nur ein neuer Kleiderstil. Sie war Teil einer sozialen Revolution. Die neu entwickelten Model- le befreiten den weiblichen Körper und verliehen so der einsetzenden Emanzipation modischen Aus- druck. Die Frau der Zwanzigerjahre war unabhän- gig, dynamisch und selbstbewusst. Sie ging aus, fuhr Auto, rauchte und trieb Sport. Dieser neue weibliche Lebensstil war Teil einer Gesellschaft, die schnell und intensiv lebte, zumindest diejenigen, die es sich leisten konnten (…) Der Trend zum Praktischen wird vor allem an einem weiteren Modephänomen der Zwanzigerjahre deutlich: der Sportmode. In den gro- ßen Kaufhäusern wurden erstmals Sportabteilungen eingerichtet. Für Frauen wurden Sporthosen zum Skifahren oder Reiten entworfen, die den Rock er- setzten. (Hartl, Frauen in den Goldenen Zwanzigern. Rauchen, Sporteln und Monokeln. Online auf: http://www.stern.de/kultur/kunst/frauen-in- den-goldenen-zwanzigern; 1.10.2012) M5 In ländlichen Gebieten lehnte man Hosen tragende Frau- en meist ab (1923): Die Tageszeitung „Vorarlberger Volksblatt“ berich- tete in einem Artikel über ein Ereignis in Bludenz im Jahr 1923: Eine Frau aus Feldkirch kam an einem Maisonntag mit einem Mann auf einem „Zweiradau- to“ nach Bludenz. Wegen eines Raddefektes muss- te die Frau, die als „Hosenweib“ bezeichnet wurde, durch die Straßen von Bludenz gehen. Die Reaktion der Menge auf diesen Vorfall schildert das „Volks- blatt“ so: „Viel Volk sammelte sich an, manche tref- fende Bemerkung war auf das Mannweib gemünzt. Das Richtige wäre gewesen, wenn ehrenfeste Frau- en das Hosenweib bis zur Grenze der Stadt begleitet 6. Europa in den 1920er-Jahren Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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