Zeitbilder 7, Schulbuch
62 M1 In der „Arbeiter-Zeitung“ erschien am 8. März 1933 ein Artikel mit dem Titel „Angriff auf die Freiheitsrechte“: (…) Um ½ 1 Uhr nachts erfahren wir, dass die Re- gierung gestern eine umfangreiche Verordnung be- schlossen hat, die unter anderm das österreichische Versammlungsgesetz und das Pressegesetz wesent- lich abändert, die grundlegende Freiheitsrechte der Staatsbürger angreift. Die Verordnung „stützt“ sich auf das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz vom Jahre 1917 (…) Wie die Regierung mit der Ver- fassung umspringt, geht schon daraus hervor, dass sie für Zeitungen, die ihre Verordnung übertreten, die Pflicht vorschreiben will, die Zeitung zwei Stun- den vor Erscheinen dem Staatsanwalt vorzulegen. Das bedeutet (…) die Wiedereinführung der Zensur (…), die durch die Verfassung (…) ausdrücklich ver- boten ist. Die Regierung hat (…) angeordnet, bis auf weiteres alle Versammlungen und Kundgebungen, auch in geschlossenen Räumen, zu verbieten. Auf Vereinsversammlungen bezieht sich diese generel- le Weisung nicht, sofern nicht „unter dem Vorwand solcher Versammlungen unzulässige politische De- monstrationen zur Durchführung gelangen“ (…) All das ist offener Verfassungsbruch, ist die Aufhebung von staatsbürgerlichen Rechten, (…) ist ein Staats- streich der Regierung! Diese Verordnung ist der erste Schritt zum Fascismus in Österreich (…) (Zit. nach: Klusacek/ Stimmer (Hg.), Dokumentation zur österreichi- schen Zeitgeschichte, 1918–1928, 1984, S. 228) M2 Vor dem „Wiener christlichen Parteirat“ erklärte Dollfuß am 15. März 1933: (…) In der jetzigen Zeit dürfen wir uns nicht den Vor- wurf machen lassen, dass wir die Gelegenheit, die sich uns bietet, vorübergehen ließen, ohne sie zur Durchführung der Reformen, die wir als unerlässlich ansehen, benützt zu haben (…) Wir stehen auf einer Sturmposition, die von links und rechts angekämpft wird; wir wollen in dieser Sturmposition bleiben und uns nach keiner Seite hin anlehnen, sondern wir wer- den gemeinsam mit unseren Freunden diesen Kampf durchhalten. (Stürmische Zustimmung) (…) (Wiener Zeitung, 15. März 933, zit. nach: Klusacek /Stimmer, a.a.O., S. 230) M3 Extraausgabe des „Arbeiterwille“ - „Organ des arbeiten- den Volkes für Steiermark und Kärnten“ vom 12. Februar 1934, Seite 1: Alarm! Alles heraus zum Endkampf gegen den Fa- schismus! Generalstreik in ganz Österreich ausgerufen! Heute früh sollte im Parteihaus in Linz eine Haus- durchsuchung stattfinden. Die Linzer Arbeiter aber ließen sich nicht wehrlos dem Faschismus ausliefern und verteidigten das Parteiheim mit Waffengewalt. Zum Sturm gegen das Parteiheim wurde Bundesheer eingesetzt, gegen das sich die Linzer Schutzbündler heldenmütig wehrten. In Oberösterreich ist spontan der Generalstreik ausgebrochen, daraufhin haben Partei und Gewerkschaften den Generalstreik in ganz Österreich proklamiert. Arbeiter! Angestellte! Republikaner! Sozialisten! Nun gilt es den Endkampf gegen Dollfuß und sei- ne Faschisten! Den Endkampf gegen Kapitalismus, Wirtschaftsnot und Bedrückung aufzunehmen und zum Siege zu führen (...) Der Kampf wird von der Arbeiterklasse mit allen Mit- teln und aller Entschlossenheit geführt! Jeder stelle seinen Mann! Jede gebe sein Letztes her! Es lebe der Sozialismus! Es lebe die um ihre Frei- heitsrechte kämpfende Arbeiterschaft! Der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Par- tei Österreichs! Der Bundesvorstand der freien Gewerkschaften! M4 Bundeskanzler Dollfuß erklärte in einer Rundfunkan- sprache am 14. Februar 1934: (…) Das verbrecherische Unternehmen ist, abgese- hen von den verbrecherischen Vorbereitungshand- lungen, von Linz ausgegangen. Eine auf Kontroll- gang befindliche größere Polizeiabteilung wurde vom sozialdemokratischen Parteiheim beschossen und nach Eindringen in dieses Gebäude von be- waffneten Schutzbündlern mit Waffengewalt der Freiheit beraubt. Kurz darauf wurde von sozialde- mokratischen und Schutzbundführern in Wien der Generalstreik in ganz Österreich anbefohlen und der unter Parteideckung weiterbestehende Schutzbund aufgeboten. Vaterlandstreue und Pflichtbewusstsein von Arbeitern und Angestellten haben aber die Par- teiparole zum Generalstreik zum völligen Misserfolg verurteilt. Nur vereinzelte Betriebe haben ihr Folge geleistet (...) Auch in den einzelnen Bundesländern und Städten konnten mit ganz wenigen lokalen, vo- rübergehenden Ausnahmen der Generalstreik eben- falls nirgends wirksam werden. Die bewaffneten Gewaltmaßnahmen gegen die staat- lichen Exekutivorgane haben jedoch leider in Wien, Linz, Steyr, Obersteier Blutopfer und Menschenleben gefordert. Die Regierung war darum gezwungen, die gesetzlichen Bestimmungen des Standrechts mit aller Strenge in Anwendung zu bringen. Um 4 Uhr einund- vierzig Minuten nachmittags wurde das erste Stand- gerichtsurteil in Wien vollzogen und (…) abends wur- de ein zweites Urteil auf Tod durch den Strang gefällt. (Rundfunkansprache Dollfuß, zit. nach Jochum, Die Erste Republik in Dokumenten und Bildern, 1983, S. 166ff.) M5 Österreich war für das nationalsozialistische Deutsch- land wirtschaftlich bedeutend: (…) nicht von ungefähr war es dann Hermann Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan verantwort- lich für die Aufrüstung, der nun zur treibenden Kraft für einen schnellen Anschluss wurde. In Österreich lockten 600 000 Arbeitslose, unter ihnen zehntausen- de hochqualifizierte Facharbeiter, zahlreiche neue Produktionskapazitäten und wichtige Rohstoffe, ins- Kompetenzmaterial 11. Vom Ende der Demokratie bis zum „Anschluss“ Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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