Zeitbilder 7, Schulbuch
94 Kompetenzmaterial M1 Der deutsche Historiker Rolf Schörken beurteilt die Wir- kung der HJ-Erziehung so: Die HJ [= Hitlerjugend] nahm viele Elemente der üblichen Rekrutenausbildung vorweg. Kein Jugend- licher, der zur Wehrmacht eingezogen wurde, stand dem Exerzieren und Marschieren, dem Leben in der Gruppe und der militärischen Disziplin so fremd ge- genüber wie etwa ein junger Engländer oder Fran- zose; alle waren daran gewöhnt, eingebunden zu sein und zu gehorchen. Auf diese Weise wurde in Deutschland ein Vorsprung in der gesamten Breite der militärischen Ausbildung erreicht. Die HJ baute die Fremdheitsschwelle des Soldatendaseins frühzei- tig ab und verringerte die Differenz zwischen dem Soldaten- und dem zivilen Leben (…) Die unmerklichen Prägungen (…) bewirkten, dass die Jugendlichen die besonderen Lebensformen und Verhaltensweisen in einer Führer-Diktatur als Normalität erlebten. Die wichtigste Wirkung der HJ- Erziehung war, dass die Jugendlichen in eine unifor- mierte Welt hineinwuchsen, in der Gehorsam und Befehl die normsetzenden [= gesetzgebenden] Grö- ßen waren, und dass sie dadurch auch lernten, auf alles Zivile wie auf etwas Nicht-Ernstzunehmendes herabzublicken (…) (Schörken, Enzyklopädie des Nationalsozialismus, 2001, S. 216 f.) M2 Nationalsozialisti- sches Propagan- daplakat Drucker: C. G. Röder, Herausgeber: Heerespersonal- amt, 84x60 cm, Leipzig 1943. M3 Die „Zehn Gebote für die Gattenwahl“ Die 10 Gebote für die Gattenwahl: 1. Gedenke, dass du ein Deutscher bist. 2. Wenn du erbgesund bist, dann darfst du nicht kinderlos blei- ben. 3. Halte deinen Körper rein. 4. Halte deine Seele rein. 5. Wähle als Deutscher einen Gatten gleichen oder nordischen Blutes. 6. Frage zuerst nach den Vorfahren des zukünftigen Gatten. 7. Gesundheit ist Voraussetzung für äußere Schönheit. 8. Heirate aus Liebe. 9. Suche keinen Gespielen, sondern einen Ge- fährten. 10. Der Sinn der Ehe ist – gesunde und viele Kinder. (Burgstaller, Erblehre, Rassenkunde und Bevölkerungspolitik, 1941, S. 25) M4 Georg Lindemann, geboren 1925, erlebte als Jugendli- cher das NS-Regime während des 2. Weltkriegs so: Ende 1941 wurde mein Bruder Soldat, Monate spä- ter ich. Wir hatten uns beide (…) freiwillig gemeldet, mein Bruder zur Artillerie und ich zur Marine.Im Juni 1942 erhielt meine Mutter plötzlich den Besuch der Gestapo. 2 Beamte wollten meinen Bruder und mich befragen, warum wir nicht der HJ, dafür aber der Swingjugend in Hamburg angehörten. Die Swingju- gend war damals eine Protesterscheinung, die vie- le Jugendliche umfasste (…). Wir kleideten uns mit Hut und Schirm, trugen die Haare lang, sammelten Schallplatten mit amerikanischer Swingmusik, tanz- ten danach und gründeten mit anderen einen „Cabi- nettclub 611“. Unsere Namen mussten der Gestapo bei Vernehmungen von Jugendlichen, die bei einer Swingveranstaltung festgenommen worden waren, aufgefallen sein. Meine Mutter hielt den Gestapobe- amten entgegen, dass die 3 Männer der Familie alle als Soldaten an der Front bzw. in der Ausbildung sei- en, und dass die beiden Söhne sich freiwillig zur deut- schen Wehrmacht gemeldet hätten. Sie fragte, ob es noch eines weiteren Beweises bedürfe, dass die Män- ner der Familie aufrechte Deutsche seien. Die Gesta- po gab sich mit dieser Erklärung zufrieden, machte jedoch den gesamten Vorgang aktenkundig. Dieser sollte uns 2 Jahre später noch einmal begegnen (…) Ende Januar 1943: Das Ende der 6.Armee in Stalin- grad war unabwendbar geworden. Wir hörten in den Decks des Schweren Kreuzers „Lützow“ in Nord- norwegen Görings denkwürdige Rede zum Ende der Kämpfe in Stalingrad. Sie gipfelte in dem Satz „Wanderer kommst du nach Berlin, dann berichte, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl“. Wir wussten damals nicht, wie viele Tau- sende es waren. In Nordafrika stand das Afrikakorps Rommels unter starkem Druck (…). Die Amerikaner waren in Westafrika gelandet (…) Es war zu erken- nen, dass Nordafrika nicht mehr lange zu halten war. Dieser Mehrfrontenkrieg war ein militärischer Wahn- sinn (...) die Wehrmachtsberichte gaben durch die Nennung von Ortsnamen eine ausreichende Darstel- lung von den aktuellen Bewegungen. Die üblichen Redewendungen, wie „im harten Abwehrkampf“ oder „Absetzbewegung“ konnte ich interpretieren (…) Der Eintritt Amerikas in den Krieg machte sich immer mehr bemerkbar. Dieser Krieg war nach mei- ner Auffassung verloren (…) Ende Juli 1943 erlebte ich etwas von dem tota- len Krieg in Hamburg, das über 6 Tage in Tag-und Nachtangriffen alliierter Flugzeuge systematisch zerbombt wurde. Meine Mutter lebte dort in unserer Wohnung. Ich hatte nach den ersten Angriffen Son- derurlaub, um nach ihr zu sehen. Sie hatte schon 3 ausgebombte Familien aufgenommen. Ich erhielt eine Lehre in diesen Tagen, welches Leid die Zivil- bevölkerung auszuhalten hatte. Wasser, Strom, Gas, alles war ausgefallen (…) Das war der erste „Abglanz des totalen Krieges“, den 5 Monate vorher Goebbels dem Deutschen Volk versprach. Für mich stand fest, 8. Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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