Zeitbilder 8, Schulbuch

5. Herausforderungen der Gegenwart 5.1 Fundamentalismus in der modernen Welt Herkunft und Merkmale Ein Gespenst geht um in der modernen Welt – das Ge- spenst des Fundamentalismus. Dabei ist dieser Begriff schon zu Beginn des 20. Jh. in den USA entstanden. Es handelte sich zunächst um eine Gegenbewegung innerhalb der protestantischen Theologie. Diese ging nämlich im Sinne eines modernen Wissenschaftsver- ständnisses daran, die biblischen Texte mit historisch-kritischen Methoden zu analysieren und zu interpretie- ren. Dem stellten die „Fundamentalists“ ihre „Funda- mentals“ entgegen. An vorderster Stelle stand damals und steht heute die irrtumslose Unfehlbarkeit der Hei- ligen Schrift: Q Wir bekennen, dass die Schrift als Ganzes und in allen ihren Teilen, bis hin zu den einzelnen Wör- tern der Originalschriften, von Gott inspiriert wurde. (Artikel VI der fundamentalistischen Chicago-Erklärung zur Irrtums- losigkeit der Bibel von 1978; zit. nach: Thiede, Fundamentalistischer Bibelglaube, 1991, S. 133) Schöpfungsglaube gegen Evolutionstheorie Mit dieser Auffassung wurde anfangs vor allem die Evolutionstheorie von Charles Darwin abgelehnt und die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments wort- wörtlich als richtig verteidigt. Aufgrund dieses Schöp- fungsglaubens (= Kreationismus) wurde nach 1921 in einigen Südstaaten der USA verboten, die Evolutions- theorie an Schulen zu unterrichten. Im Verlaufe seiner Geschichte hat sich der Begriff des Fundamentalismus jedoch gewandelt und geweitet. Heute wird mit ihm eine bestimmte Art des Zusammen- fallens von enger traditionsorientierter Religion und Po- litik bezeichnet. Kennzeichnende Merkmale des Fundamentalismus 1. Der Fundamentalismus bietet ein geschlossenes Welt- bild: Es gibt nur eine „richtige“ Erklärung und Deutung der Welt und auch klare Vorschriften für die Lebensfüh- rung im Alltag. 2. Fundamentalismus lehnt die Auffassung von der Überlegenheit der modernen, aufgeklärten Gesellschaft ab. Er übt Kritik am Anspruch nach alleiniger Geltung des wissenschaftlich aufgeklärten Denkens. 3. Diese Traditionen erhalten den Rang einer unbefrag- ten Autorität – ähnlich religiösen Dogmen. 4. Der Fundamentalismus ist gekennzeichnet durch ein Elitebewusstsein. Der Fundamentalist weiß sich der kleinen Schar der Auserwählten zugehörig; er fühlt sich dadurch geborgen vor den Wirren unserer Zeit. Faszination des Fundamentalismus in einer unsicheren Welt Wir leben in einer Zeit der voranschreitenden Verwis- senschaftlichung unseres Lebens. Die Erfahrungen mit dynamischen Entwicklungen machen die Menschen unsicher. L Im Westen reagiert der Fundamentalismus auf innere Widersprüche der Neuzeit, z. B. auf neu- zeitliche Ideologien, auf quasi religiöse Ansprüche von Wissenschaft und wissenschaftlichem Weltbild. (...) Für den Islam, für Hindus und Buddhisten bricht die neuzeitliche Kultur von außen herein. Ihre reli- giösen Fundamente werden von der neuzeitlichen Verweltlichung bedroht, aber gleichzeitig droht eine kulturelle Verwestlichung, es drohen wirtschaftliche Abhängigkeit und politische Bevormundung. Oft ist der Fundamentalismus ebenso ein Versuch politisch- kultureller Selbstbehauptung wie ein religiöses Un- ternehmen. (...) Oft ist er ein Versuch der Bewahrung eigener Traditionen. (Hemminger, Fundamentalismus in der verweltlichten Kultur, 1991, Einführung, S. 10 f.) Fundamentalismus in den Religionen: im Rahmen des Katholizismus Das 2. Vatikanische Konzil (1962–1965) brachte der ka- tholischen Kirche einen Modernisierungsschub: Sie res- pektiert z. B. seither das Recht auf Religionsfreiheit An- dersgläubiger. Sie schwächt die überlieferten Jenseits- vorstellungen von Hölle und Fegefeuer ab und rückt die Barmherzigkeit Gottes gegenüber der Strafe in den Vordergrund. Sie schafft Latein als verpflichtende Litur- giesprache ab u. v. a.m. Einige Gruppen innerhalb der Kirche können diese Änderungen nur schwer nachvoll- ziehen. Manche katholischen Fundamentalisten lehnen z. B. die Volksmesse ab, andere respektieren Atheisten oder Agnostiker und deren Auffassungen nach wie vor nicht. ... im Rahmen des Protestantismus Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Ziele des ur- sprünglichen Fundamentalismus in den USA von der evangelikalen Bewegung (= Nachfolge der Wanderpre- diger aus der Pionierzeit) übernommen. Das erklärte Ziel ist die Rechristianisierung Amerikas u. a. mit Bibel- lektüre, Schulgebet und militantem Abtreibungsverbot. Bekannte amerikanische Fernsehprediger fundamen- talistischer Prägung werden als „Televangelists“ (z. B. Billy Graham, Oral Roberts) bezeichnet. Sie sprechen über ihre alltägliche Präsenz in den elektronischen Me- dien („Elektronikkirchen“) die Massen an. 120 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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