Zeitbilder 8, Schulbuch
5.8 Herausforderungen der Gegenwart M1 Zur Globalisierung der Marktwirtschaft wird neben vielfacher Kritik auch behauptet: Weltweit werden die Reichen reicher und die Armen reicher. Noch nie zuvor ging es den Bewohnern dieses Plane- ten so gut wie heute. Und anders als vielfach behaup- tet, werden nicht nur die Reichen reicher, sondern auch die Armen. Musste laut UNO im Jahr 1990 noch fast die Hälfte aller Menschen in den Entwicklungs- ländern von weniger als einem Euro pro Tag leben, so ist es heute nur noch ein Viertel. (…) Zwei gewal- tige treibende Kräfte haben die positive Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten beschleunigt: die Marktwirtschaft und die menschliche Erfindungsga- be – vor allem in der modernen Informationstechno- logie. Nicht nur Waren und Geld zirkulieren deutlich schneller und ungehemmter als früher um die Welt, sondern auch Ideen. Das Internet macht es möglich. Von Jahr zu Jahr steigt weltweit die Anzahl der Paten- te. Irgendwo auf der Welt erfindet jede Minute irgend- jemand etwas, was unser Leben wieder angenehmer macht. In der Forschung, in der Produktion, auf allen erdenklichen Gebieten breitet sich die Arbeitsteilung in Windeseile in den letzten Winkel des Globus aus – und damit auch der Wohlstand. Denn durch die glo- bale Vernetzung profitieren längst nicht mehr nur die entwickelten Länder der Ersten Welt vom technischen und wirtschaftlichen Fortschritt. (…) Matt Ridley, der säkulare Faktenpapst der Zuversichtlichen hat in sei- nem Buch „The Rational Optimist“ das statistische und argumentative Futter für eine entspannte Sicht auf den Lauf der Welt geliefert. Der durchschnittliche Erdenbewohner hatte im Jahr 2005 dreimal so viel Geld (inflationsbereinigt) wie 1955, sein Essen war um ein Drittel kalorienreicher, seine Lebenserwartung stieg um ein Drittel. Und das, obwohl sich die Weltbe- völkerung mehr als verdoppelte. (Ultsch/Zirm, Der Menschheit geht es besser als je zuvor. In: Die Pres- se, 30.6.2012, S.2f.) M2 Stephane Hessel, der ab 1946 der Vertretung Frank- reichs bei den Vereinten Nationen angehört hat und an der Redaktion der Charta der Menschenrechte beteiligt war, sieht das in seinem Essay gegen die globale Macht der Finanzmärkte anlässlich der weltweiten Finanzkrise 2009 jedoch bedeutend anders: Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Be- freiung [1945; Anm. d. A.], als Europa in Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes (…) niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates. In vielen Schaltstellen der wieder privati- sierten Geldinstitute sitzen Bonibanker und Gewinn- maximierer, die sich keinen Deut ums Gemeinwohl scheren. Noch nie war der Abstand zwischen den Ärmsten und den Reichsten so groß. Noch nie war der Tanz um das goldene Kalb – Geld, Konkurrenz – so entfesselt. (…) Mischt Euch ein, empört Euch! Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die Intel- lektuellen, die ganze Gesellschaft dürfen sich nicht kleinmachen und kleinkriegen lassen von der inter- nationalen Diktatur der Finanzmärkte, die es so weit gebracht hat, Frieden und Demokratie zu gefährden. (Hessel, Empört Euch, 2011, S. 9f.) M3 Die Occupy-Bewegung wird von politischen Analysten unterschiedlich beurteilt: Der Schweizer Soziologe Ruedi Epple: „Occupy ist in den USA und Deutschland gescheitert, weil es der Bewegung nie gelungen ist, andere Gesellschafts- gruppen mit in Bewegung zu setzen.“ Wer isoliert bleibt, dem geht eben die Puste aus. In Spanien da- gegen steht die Bewegung der Indignados (die Em- pörten) tatsächlich auf breiten Beinen. Auf einer ih- rer Webseiten („Take the Square“) werben sie gerade mit Videos von Polizisten und Lehrern, die in Madrid gegen die Sparpolitik demonstrieren. (…) Der Wiener Politologe Ulrich Brand findet überhaupt, dass viele Occupy missverstanden haben. Rufe nach einer Bankenregulierung oder einer Finanztransakti- onssteuer seien bei Occupy zunächst nur Nebenge- räusche gewesen: „Die Bewegung habe sich dadurch ausgezeichnet, dass sie Politik und politische Reprä- sentation generell in Frage gestellt hat. (…) Aber ir- gendwann hätte man dann doch konkrete politische Forderungen und Ziele formulieren müssen“. (Szigetvari, Die Einsamkeit der 99-Prozent-Bewegung. In: Der Stan- dard, 8.8.2012) M4 In einer Diskussion um die zukünftige Entwicklung von Globalisierung und Demokratie im Sommer 2012 in Salzburg äußerten sich prominente Politiker/innen skeptisch: Zwischen dem Traum von einer die Umwelt schonen- den sozialen Marktwirtschaft und der Wirklichkeit des Lebens wie der Politik klafft eine riesige Lücke: „Wenn man die Menschen frage, ob sie für Nachhal- tigkeit seien, stimmen fast alle zu. Aber (fast) nie- mand sei bereit, dafür zu zahlen“– damit brachte ein Redner beim „Salzburger Trilog“ das Dilemma auf den Punkt, warum der Gordische Knoten zum „rich- tigen“ Wachstum so schwer zu lösen ist. Dies gilt umso mehr in Zeiten der Krise: „Ich mache mir ech- te Sorgen um die Demokratie, sie ist irgendwie ins Eck gestellt“, hielt eine Teilnehmerin fest. Die Bürger stellen zunehmend Fragen nach der Legitimität von Maßnahmen. (…) Weitgehend einig war man sich, dass soziale Faktoren, Schutz der Ressourcen wichtig bleiben. Dazu bekommt Bildung/Ausbildung zuneh- mende Bedeutung. (Mayer, Trilog Salzburg. In: Der Standard, 18./19.8.2012, S.9) M5 Der Soziologe Ulrich Beck meint, dass gegenwärtige Gefahren wie Terrorismus, Finanzkrise oder Klimawandel nur mehr in ihren globalen Dimensionen beurteilt wer- den können: Am Beginn des 21. Jahrhunderts sehen wir die mo- derne Gesellschaft mit anderen Augen – und diese Geburt eines „kosmopolitischen Blicks“ gehört zu dem Unerwarteten, aus dem eine noch unbestimm- te Weltrisikogesellschaft hervorgeht. Von jetzt an ist nichts, was geschieht, ein bloß lokales Ereignis. 136 Kompetenzmaterial Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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