Zeitbilder 8, Schulbuch
Zivilgesellschaft statt „Zuschauerdemokratie“ Seit den 1970er-Jahren sind die Bürgerinnen und Bür- ger auch in Österreich politisch aktiver geworden – und zwar außerhalb der Bereiche, die von Parteien, Verbän- den und anderen staatlichen Institutionen „besetzt“ sind. Diese Menschen sind davon überzeugt, dass Poli- tik nicht nur „von oben“ gesteuert und von einer (Par- teien-) Elite ausgeübt werden darf. Ihr Ziel ist immer noch: Weg von einer „Zuschauerdemokratie“, in der die Mehrheit der Bevölkerung nur passiv politische Entscheidungen zur Kenntnis nimmt, und hin zu selbst organisiertem, politischen Handeln. Mit diesem neuen politischen Verständnis von Staat und Gesellschaft entwickelte sich die gegenwärtige, poli- tisch aktive „Zivilgesellschaft“. Die Aktivitäten dieser gesellschaftlichen Gruppen wurden u. a. in der Frauen-, der Anti-Atom-, der Umwelt- sowie in der Friedens- und Menschenrechtsbewegung sichtbar. Die heutigen Menschenrechts- (z. B. Amnesty International, SOS Mit- mensch) und Umweltorganisationen (z. B. Greenpeace, Global 2000) sind auf lokaler, nationaler und internati- onaler Ebene aktiv und auch miteinander vernetzt (z. B. internationale Konferenzen der NGOs). Zur Zivilgesell- schaft im weiteren Sinn zählen auch alle jene privaten Vereine und Institutionen, die für die Öffentlichkeit Leistungen erbringen (Freiwillige Feuerwehr, Caritas, Rotes Kreuz usw.) (vgl. auch S. 130 ff.). Bürgermitbestimmung – lokal und staatlich Direkte Demokratie in Form von aktiver Bürgerbeteili- gung an politischen Prozessen findet in Österreich öfter in den Gemeinden als auf gesamtstaatlicher Ebene statt. Schon in den 1960er-Jahren kam es zur Gründung von Bürgerinitiativen und zum aktiven und oft erfolgreichen Kampf gegen die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker. Seit 1974 hat Graz ein „Büro für Bürgerinitia- tiven“. Dort werden Auskünfte erteilt, dort können sich Bürgerinitiativen registrieren lassen und dort werden Besprechungen zwischen allen Betroffenen organisiert. 1977 kandidierte in Salzburg erstmals eine „Bürgerliste“ bei Gemeinderatswahlen und war seither immer wieder im Salzburger Gemeinderat (z. T. auch in der Stadtregie- rung) vertreten. Mittlerweile gehören Bürgerinitiativen längst zum po- litischen Alltag. Sie engagieren sich nicht nur bei Pro- blemen, die ihre unmittelbare Umwelt betreffen (z. B. umweltgefährdende Betriebe, neue Betriebsansiedlun- gen). Vor allem in Verkehrs- (Transitrouten) und Ener- giefragen (Kraftwerksbauten) haben sie sich auch über- regional organisiert. Direkte Demokratie, also unmittelbare Bürgermitbe- stimmung, ist auch auf Staatsebene durch die Verfas- sung gewährleistet: in Form von Volksbefragungen, Volksabstimmungen (Kernkraftnutzung, EU-Beitritt), parlamentarischen Bürgerinitiativen und Volksbegeh- ren. 36 solcher Volksbegehren wurden zwischen 1964 und 2013 mit teilweise hoher Beteiligung durchgeführt (s. Grafik). Doch blieb vielen davon der Erfolg versagt, weil der Nationalrat einen entsprechenden Gesetzes- beschluss ablehnte (vor allem dann, wenn das Volksbe- gehren von der Opposition eingeleitet oder unterstützt wurde). Aufgrund der äußerst geringen Beteiligung bei den letzten Volksbegehren werden Änderungen in der Durchführung überlegt. Fragen und Arbeitsaufträge 1. Erkundige dich über die Finanzsituation in deiner Hei- matgemeinde. Was sind ihre wichtigsten Einnahmequel- len? Welche Projekte sind für Jugendliche geplant, was kosten sie? 2. Erörtere die Vorteile bzw. Nachteile der gesplitteten Wahlen (Gemeinderat und Bürgemeister/in). 3. Recherchiere mit Hilfe des Internets im Rechtsinformati- onssystem (RIS) die näheren gesetzlichen Bestimmungen zum Volksbegehren (B-VG Art. 41, 2), zur Volksabstimmung (B-VG Art. 44, 3 u. Art. 60, 6), zur parlamentarischen Bür- gerinitiative (Geschäftsordnungsgesetz 1975 §100, BgBl. I, Nr.31/2009) und zur Volksbefragung (Volksbefragungs- gesetz 1989 §5, BgBl. I, Nr.90/2003 und B-VG Art. 49b). 4. In der Schweiz werden über wichtige politische Fragen immer Volksabstimmungen abgehalten, in Österreich erst zweimal. Führt eine Pro- und Contra-Debatte in der Klasse über die Abhaltung von Volksabstimmungen durch (z. B. über den Ausbau von Straße/Bahn, Einsatz von Gentechnologie, Anhebung des Pensionsalters, EU-Beitritt der Türkei etc.). W Die Uni brennt! Studierende protestieren im Oktober 2009 gegen die schlechten Studienbedingungen und besetzen das Audimax in Wien. Fo- tografie v. Christian Müller, 26. 10. 2009. Ergebnisse der zehn stimmenstärksten Volksbegehren (Stand 2012) W Bundesministerium für Inneres. Jahr Betreff (Unterzeichner, Anteil in %) Unter- schriften 1982 1997 1975 1969 1964 2002 2002 1997 2002 2004 1 316 562 1 225 790 895 665 889 659 832 353 914 973 717 102 644 665 624 807 627 559 Gegen Konferenzzentrum Gegen Gentechnik Für Aufhebung Fristenlösung Einführung der 40-Stunden Woche Für ORF-Refom Veto gegen Temelin „Sozialstaat Österreich“ Frauen-Volksbegehren Gegen Abfangjäger Pensions-Volksbegehren (25,74) (21,23) (17,93) (17,74) (17,27) (15,53) (12,20) (11,17) (10,65) (10,53) 51 1 Österreich – die Zweite Republik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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