Zeitbilder 8, Schulbuch

M2 Die Haltung des Bundespräsidenten Heinz Fischer zum Ausbau der direkten Demokratie: Fischer: Nein zu mehr Volksabstimmungen (…) Immer mehr Politiker wollen, dass Volksbegeh- ren ab einer bestimmten Grenze automatisch zu einer Volksabstimmung führen. Sollen in diesem Sinne die Bürger über den Verbleib der Griechen im Euro ab- stimmen? Man muss sehr genau überlegen, inwieweit man die Entscheidungsmöglichkeiten und die Entschei- dungsverantwortung des Parlaments durch plebis- zitäre Elemente ersetzt. Eine Abstimmung über die Griechenland-Problematik in Österreich bringt uns nicht weiter. Da müsste aus Gründen der Gleichheit überall in Europa und nicht nur in einem Land ab- gestimmt werden. Das wäre eine „Fleckerlteppich- Volksabstimmung“ auf europäischer Ebene. Außer- dem ist jetzt Griechenland am Zug zu entscheiden, ob es die getroffenen Vereinbarungen einhalten kann und will. Sie sind dagegen, weil die Bürger bei so einer Frage überfordert sind? Es gibt gute Gründe, warum die parlamentarische Demokratie nicht nur von den Gründern der Ersten und Zweiten Republik etabliert wurde, sondern auch quer durch Europa als unverzichtbar gilt – ergänzt durch Elemente der direkten Demokratie, wie sie auch in unserer Verfassung vorhanden sind. Aber sollte man die Österreicher angesichts der Po- litiker-Verdrossenheit nicht mehr einbinden in die Entscheidungsfindung? Die Politiker sollten mehr Staatsmänner sein. Sie müssen Lehren aus der Politiker-Verdrossenheit zie- hen, langfristig denken und Resultate liefern. Sie müssen bereit sein, Entscheidungen zu treffen und diese nicht an ihre Auftraggeber, also die Wählerin- nen und Wähler, zurückgeben. Das Volk ist der Auf- traggeber und wählt Politiker, damit diese Verant- wortung übernehmen. Das parlamentarische System wird ja ohnehin durch Elemente der direkten Demo- kratie ergänzt; die Wahl des Bundespräsidenten ist eines davon. Daher sollte man daran arbeiten, dass die Elemente der direkten Demokratie effizienter werden, aber nicht ein neues System forcieren, das den Parlamentarismus schwächt und in wichtigen Frage beiseiteschieben kann. Die permanente Volksabstimmung wie in der Schweiz ist nicht Ihr Vorbild? Das entspricht nicht der österreichischen politischen Tradition und den österreichischen Interessen. Welche Themen taugen für eine Volksabstimmung – und welche sicher nicht? Das Problem, worüber darf abgestimmt werden und worüber nicht, wird ja erst künstlich geschaffen, wenn man die parlamentarische Demokratie schwächt und den Gesetzgeber durch Volksabstimmungen teilwei- se überspielen kann. Dann kommen manche und sagen: Aber über das Budget und Grundrechte und über Europa-Fragen und Minderheitenrechte etc. darf das Volk nicht abstimmen. Es ist in sich unlo- 18. Mehr direkte Demokratie – ja oder nein? M1 Der Journalist Michael Völker über den unterschiedli- chen Zugang von Jung und Alt zur direkten Demokratie: Demokratie ist zumutbar (…) es fällt auf, dass der Disput [= Meinungsverschie- denheit; Anm. d. A.] über einen stärkeren Einsatz di- rekter Demokratie auch entlang der Bruchlinien von Jung und Alt geführt wird. Die Jungen werfen den Alten vor, den Menschen nichts zuzutrauen, sie für dumm (und rechts) zu hal- ten, sich der Demokratie und der Mitbestimmung zu verweigern, sich ganz auf die Autorität der Abgeord- neten zu verlassen – oder schlicht den Aufwand zu scheuen, der damit verbunden ist, das Volk in demo- kratische Entscheidungsprozesse einzubinden. Da ist was dran. Die Alten werfen den Jungen vor, zu unsensibel für die Werkzeuge der Demokratie zu sein, dem Volk zu viel zuzumuten. Das Volk sei nicht qualifiziert genug, um komplexe Entscheidungen treffen zu können. Es sei leicht vom Boulevard [= Massenmedium/Sensa- tionszeitung; Anm. d. A.] beeinflussbar und von den Demagogen verführbar. Wie man an den Wahlergeb- nissen sieht. Wohin das führt, das weiß man ja. Da ist was dran. Die Debatte muss aber dazwischen geführt [werden]. De facto sind alle Parteien für einen Ausbau der di- rekten Demokratie – durchaus mit unterschiedlichen Zugängen. Und es fällt auf, dass ausgerechnet die SPÖ, die gerne Volksabstimmungen anordnen würde, wenn es ihren Proponenten [= Vertretern; Anm. d. A.] gerade tagesaktuell in den Kram passt, als einzige Partei keinen konkreten Plan vorgelegt hat und es den anderen überlässt, über die lästigen Details zu diskutieren. Auf die Details aber kommt es an: worüber abge- stimmt wird; wie viel Stimmen notwendig sind; wann und welchen Fragen der Nationalrat überstimmt wer- den kann. Tatsächlich kratzen die Modelle, die ÖVP, Grüne oder FPÖ zur Diskussion gestellt haben, an den Grundfesten der repräsentativen Demokratie. Und da kann man ruhig auf die Bedenken der „Alten“ (…) hören: Auch Verfassungsgesetze zur allgemeinen Ab- stimmung freizugeben ist gefährlich und heikel. Und wohl niemand will Schweizer Verhältnisse (…) Die Frage ist: Was kann dem Volk zugemutet wer- den, was kann seinen Vertretern, respektive der Poli- tik zugemutet werden? Mehr als jetzt jedenfalls. Die Bürger bei wichtigen Entscheidungen einzubinden, belebt die Demokratie und die Demokraten. Man muss überlegen, ob sich Studiengebühren oder die Wehrpflicht zur Abstimmung eignen und wie man es mit einer Frage wie dem Parkpickerl halten will. Den Volksvertretern ist zumutbar, dass sie (…) sich darum bemühen, die Bürger für ein Thema, eine Ent- scheidungsfindung zu interessieren. Den Bürgern ist zumutbar, (…) mehr Verantwortung zu überneh- men – auch in gelegentlichen Volksabstimmungen. Sonst stimmt das Volk bei der nächsten Wahl wieder nur über das geringere Übel ab. (Völker, Der Standard, 23./24.6.2012, S.36) 52 Kompetenzmaterial Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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