Zeitbilder 8, Schulbuch
In den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jh. kehrten in Lateinamerika zahlreiche Staaten nach dem Schei- tern der Militärregime wieder zur Demokratie zurück. In Brasilien etwa war es nach der Militärdiktatur (1964– 1985) das Ziel der Regierungen, die Wirtschaft durch umfangreiche Privatisierungen, Liberalisierung des Au- ßenhandels und die Öffnung des Marktes für auslän- disches Kapital zu verbessern. Brasilien geriet dadurch allerdings in Abhängigkeit zum IWF und zur Weltbank. Außerdem wurde zur Bekämpfung der Massenarmut und gegen die Vernichtung des Regenwaldes wenig getan. Wahl einer neuen Regierung Im Jahr 2002 wurde der sozialistische Gewerkschafts- führer Luiz Inácio Lula da Silva zum Präsidenten ge- wählt. Er setzte einschneidende soziale Reformen durch. Gleichzeitig versprach er aber auch, die Verpflichtun- gen seines Landes gegenüber dem IWF einzuhalten. Er gewann dadurch die Sympathien der internationalen Finanzwelt. Für viele galt der neue Präsident der damals zehnt- größten Industrienation als glaubhafter Vertreter einer Politik des Wandels zu mehr sozialer Gerechtigkeit bei gleichzeitiger Bewahrung der wirtschaftlichen Stabi- lität. Ihm folgte 2011 Dilma Rousseff, seine bisherige Stellvertreterin als Präsidentin im Amt. Reformvorhaben im sozialen Bereich Laut Schätzungen der UNO lebten in Brasilien zu Be- ginn des 21. Jh. noch immer etwa 22% der Bevölkerung von weniger als 2 Dollar pro Tag. Schon 2003 stellte daher die Regierung ein Sozialprojekt vor, das von der Weltbank mitfinanziert wurde und Familien mit gerin- gem Einkommen zugutekommen sollte. In Verbindung mit bestimmten Auflagen, wie regelmäßigem Schulbe- such der Kinder und Impfungen, erhielten die Familien eine monatliche Unterstützung sowie Beihilfen für jedes Kind. Mit diesem groß angelegten Sozialplan gelang es, 44 Mio. Brasilianer/innen zu erreichen. Dadurch konnten bis 2010 30 Mio. Menschen die Armut über- winden. So wurde der mit 195 Mio. Menschen bevölke- rungsreichste Staat Südamerikas zu einem Vorreiter im Kampf gegen die Armut. Die Landreform – nach wie vor ungelöst Eines der Hauptversprechen von Lula war, eine Landre- form durchzuführen. Lediglich ein Prozent der Grund- besitzer besitzt nämlich beinahe die Hälfte der land- wirtschaftlich genutzten Fläche. Drei Prozent gehören drei Mio. Bäuerinnen und Bauern. Der überwiegende Teil der in der Landwirtschaft beschäftigten Menschen besitzt jedoch gar nichts. In dieser Frage spitzt sich der Konflikt um eine Landreform weiter zu und wird von Gewalt begleitet. 2003 wurden in diesem Zusammen- hang doppelt so viele Morde registriert wie im Jahr zuvor. Auch die offiziell registrierten Landbesetzun- gen stiegen drastisch an. Mit diesen Besetzungen von Land der großen Grundbesitzer versuchte die „Bewe- gung der Landlosen“, eine Reform durch die Regierung zu erzwingen. Diese reagierte darauf bisher allerdings mit einer Doppelstrategie: Einerseits wurden die poli- zeilichen Kontrollen verstärkt, andererseits wurde den Protestierenden weiterhin versprochen, mindestens 400 000 landlosen Familien Land zuzuweisen. Neu in dieser sozialen Protestbewegung war, dass sich die unzufriedenen Landlosen immer häufiger mit den unzufriedenen Obdachlosen in den Städten verbanden. Viele von ihnen waren im Zuge der wachsenden Land- flucht in die Städte an der Küste gekommen, blieben dort aber in der Regel an den Rand gedrängt. In ihrem Protest besetzten sie Häuser oder auch die Firmenge- lände internationaler Konzerne, wie etwa jenes von VW in São Paulo. Sie wichen oft erst dem Einsatz von Polizei. Gefährdete Natur und Umwelt Schon 1998 wurde in Brasilien versucht, die Produktion von Soja auf genetischer Grundlage einzuführen. Die- ses Vorhaben wurde nach Protesten durch einen Ge- richtsbeschluss vereitelt. 2003 ermöglichte jedoch die Regierung trotz des Widerstandes von Politikerinnen und Politikern, Bäuerinnen und Bauern, Umwelt- und Verbraucherorganisationen unter dem Druck der Lobby brasilianischer Großgrundbesitzer diesen Anbau. Soja macht 25% der Agrarexporte Brasiliens aus. Weltweit rangiert das Land bei der Produktion von Soja an zwei- ter Stelle hinter den USA. Die Abholzung des Regenwaldes ging lange Zeit unge- hindert weiter. Erst 2009 kündigte die Regierung an, die Abholzung bis zum Jahr 2010 deutlich zu verringern. Dieses Vorhaben sieht auch den Einsatz von Militär und Polizei zur Verhinderung illegaler Abholzungen vor. Infolge der bisherigen Entwaldungen ist nämlich Bra- silien zum viertgrößten CO 2 -Emittenten weltweit aufge- stiegen. 3.4 Lateinamerika – ein Kontinent im Aufbruch: Fallbeispiel Brasilien Dilma Rousseff, Präsidentin Brasiliens seit 2011, wiedergewählt 2014, und Luiz Inácio Lula da Silva, ihr Vorgänger (Fotografie, Jänner 2011). 96 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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