Killinger Literaturkunde, Schulbuch
106 Anonyme Rezension in: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Literatur , 1775: 1 5 Der Hauptvorzug dieses Romans besteht in der vollkommenen Bearbeitung des Charak- ters der Hauptperson, der so ein Ganzes ausmacht ..., dass man sich kein wahreres und nach der Natur getreuer gezeichnetes Bild eines menschlichen Charakters vorstellen kann. Die Schlusskatastrophe entspringt nicht nur natürlich aus dem Charakter, hier sieht man, dass es unmöglich ist, dass die Katastrophe nicht erfolge. Kurz, „Die Leiden des jungen Werthers“ sind die allervortrefichste Erläuterung durch ein Beispiel von dem Satze: Die Menschen werden zu ihren jedesmaligen Handlungen durch die zusammengesetzte Wir- kung der Umstände und ihres Charakters unwiderstehlich bestimmt. 6. Analysieren Sie Inhalt und Form der einzelnen Rezensionen: • Stellen Sie dar, welche Kritikpunkte hervorgehoben werden. • Kommentieren Sie die sprachliche Form der vorliegenden Rezensionen. Geben Sie Beispiele für stilistische Unterschiede. Die heftigen Reaktionen sind wohl auch auf den Umstand zurückzuführen, dass die Romanleser/ innen der damaligen Zeit gewohnt waren, vom Autor eine klare moralische Bewertung des Gesche- hens mitgeliefert zu bekommen. Goethe tat dies nicht, er verurteilte seinen Werther nicht, eher die Gesellschaft, die dem Selbstmörder ein christliches Begräbnis verweigerte. Die erste Fassung des Romans wurde bis 1790 etwa dreißigmal gedruckt, die zweite Fassung etwa fünfundzwanzigmal bis zu Goethes Tod. Goethe notierte am 30. April 1780 in sein Tagebuch: „Las meinen ,Werther‘, seit er gedruckt ist, das erste Mal ganz und verwunderte mich.“ poL I T I scHE LyRIk: In TyRAnnos Im Jahr 1777 wurde auf Befehl des Herzogs Karl Eugen von Württemberg der Journalist, Schrift- steller und Musiker Christian Friedrich Daniel Schubart (1739 – 1791) verhaftet und in einem Fes- tungsgefängnis eingesperrt, ohne dass ihm der Prozess gemacht wurde. Der Grund waren einige Bemerkungen in der von ihm allein bestrittenen Zeitung Deutsche Chronik und sein etwas unsolider Lebenswandel. Im dritten Jahr seiner Gefangenschaft schrieb Schubart das Gedicht Die Fürstengruft . Es kam an die Öffentlichkeit und trug ihm weitere sieben Jahre Haft ein. Die Strophen 1, 2 und 7 bis 12 lauten: 2 4 Christian Friedrich Daniel Schubart Die Fürstengruft (1780) Da liegen sie, die stolzen Fürstentrümmer, Ehmals die Götzen ihrer Welt! Da liegen sie, vom fürchterlichen Schimmer Des blassen Tags erhellt! Vision vom Tod des Tyrannen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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