Literaturräume, Schulbuch

106 sturm unD Drang (1770–1785/90) 2 Die Frau als Angeklagte Johann Wolfgang von Goethe: „Vor Gericht“ (1776) Ein beliebtes Balladenthema Auffallend oft behandelt der Sturm und Drang in Bal­ ladenform das Motiv der verführten, vom Liebhaber verlassenen oder unverheiratet schwangeren jungen Frau. Manche Dichter machen daraus schaurige „SoapOperas“. Der junge Goethe hingegen stellt eine mutige junge Frau in den Mittelpunkt seiner Ballade „Vor Gericht“. Willkommen und Abschied Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Es war getan fast eh gedacht; Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht: Schon stand im Nebelkleid die Eiche, Ein aufgetürmter Riese, da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah. Der Mond von einem Wolkenhügel Sah kläglich aus dem Duft hervor, Die Winde schwangen leise Flügel, Umsausten schauerlich mein Ohr; Die Nacht schuf tausend Ungeheuer; Doch frisch und fröhlich war mein Mut: In meinen Adern welches Feuer! In meinem Herzen welche Glut! Dich sah ich, und die milde Freude Floss von dem süßen Blick auf mich; Ganz war mein Herz an deiner Seite Und jeder Atemzug für dich. Ein rosenfarbnes Frühlingswetter Umgab das liebliche Gesicht, Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter! Ich hofft es, ich verdient es nicht! Doch ach, schon mit der Morgensonne Verengt der Abschied mir das Herz: In deinen Küssen welche Wonne! In deinem Auge welcher Schmerz! Ich ging, du standst und sahst zur Erden, Und sahst mir nach mit nassem Blick: Und doch, welch Glück, geliebt zu werden! Und lieben, Götter, welch ein Glück! Zwei Tage nach seiner JusAbschlussprüfung im August 1771 verlässt Goethe Friederike, ohne sie bei der letzten Begegnung wissen zu lassen, dass er nicht zurückkehren werde. Den Abschied am letzten Abend gibt Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ wieder : „[Ich] konnte […] doch nicht unterlassen, Friedriken noch einmal zu sehn. Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, stan- den ihr die Tränen in den Augen, und mir war sehr übel zu Mute.“ 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 INFO Die Ballade Das Wort kommt vom lateinischen ballare – „tanzen“ – und meint ursprünglich ein Tanzlied mit Refrain. Ab dem 18. Jahrhundert bezeichnet der Begriff ein meist strophisch gegliedertes Gedicht, das ein meist ungewöhnliches Geschehen aus Geschichte, Mythos oder Alltag darstellt. Oft handelt es sich um Zusammenstöße zweier „Parteien“ in Rede und Gegenrede. Für Goethe ist die Ballade das „Ur-Ei“ der Poesie, welche die „drei Grundarten – Epos, Lyrik, Drama – in sich vereinigt“ . AUFGABEN > Bestimmen Sie im Text die drei Motive „Ritt“, „Ankunft“, „Abschied“. > Notieren Sie die Adjektive, Adverbien und Metaphern, welche die jeweils unterschiedliche Stimmung wiedergeben! > Mit welchen Metaphern schildert Goethe das Fortschreiten der Nacht? Welche Antithese bestimmt die zweite Strophe? Welche Satzart wird, verglichen mit „normalem“ Sprechen, auffällig oft verwendet? > Welche Veränderung vollzieht sich im lyrischen Ich der dritten Strophe gegenüber dem der zweiten Strophe? AUFGABE > Versuchen Sie eine psychologische Erklärung von Goethes „mangelnder Erinnerung“! Nur zu Prüfzwecken – E gentum des Verlags öbv

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