Literaturräume, Schulbuch
107 Der leseraum Die mutige Frau „Vor Gericht“ behandelt das Thema der unverheirateten schwangeren Frau. Der rechtliche Hintergrund: Bei Be kanntwerden einer unehelichen Schwangerschaft wurden die Frauen in den meisten deutschen Staaten vor ein Gericht geführt. Die „Unzucht“ wurde für die Frau mit Pranger und Auspeitschung geahndet. Beide, das Mädchen und seinen Verführer, traf die „Ehrlosigkeit“, die zum Verlust der Arbeitsstelle und zu Armut führte. Totgeburten wurden als Mord beurteilt, wenn die Schwangerschaft verheimlicht worden war. Bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts war die Strafe für die Tötung eines neugeborenen Kindes durch seine Mutter kein Diskussionsthema. Die Berechtigung des Todesurteils galt als selbstverständlich, weil man die Tat nur vom religiösmoralischen Standpunkt aus beurteilte. Nun aber beschäftigte man sich zunehmend mit der Frage nach den Hintergründen und wie man einer solchen Tat vorbeugen könne. Vor Gericht Von wem ich’s habe, das sag’ ich euch nicht, Das Kind in meinem Leib. Pfui, speit ihr aus, die Hure da! Bin doch ein ehrlich Weib. Mit wem ich mich traute, das sag’ ich euch nicht, Mein Schatz ist lieb und gut, Trägt er eine goldne Kett’ am Hals, Trägt er einen strohernen Hut. Soll Spott und Hohn getragen sein, Trag’ ich allein den Hohn. Ich kenn ihn wohl, er kennt mich wohl, Und Gott weiß auch davon. Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr, Ich bitt’ lasst mich in Ruh! Es ist mein Kind und bleibt mein Kind, Ihr gebt mir ja nichts dazu. 2 4 6 8 10 12 14 16 3 Gegen alle Arten von Unterdrückung Matthias Claudius: „Der Schwarze in der Zuckerplantage“ (1773) Gottfried August Bürger: „Der Bauer an seinen durchlauchtigsten Tyrannen“ (1778) Claudius: nicht nur der Dichter des „Abendliedes“ Matthias Claudius’ Gedicht „Abendlied“ aus dem Jahr 1779 – „Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar“ – ist als bekanntestes Gedicht des Autors in vielen Lyrikan thologien zu finden. Im Allgemeinen gilt der Autor als empfindsamer und gemütlicher Dichter. Dass Claudius auch kritische politische Werke schrieb, ist von der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen wor den. Aber viele Aufsätze des Dichters und insbesondere sein Gedicht Matthias Claudius AUFGABEN > Welchen Doppelsinn hat das Verbum „sich trauen“ in Strophe 2? Welche Reaktionen der Richter auf uneheliche Geburt sind aus dem GoetheGedicht herauszulesen? Womit begründet das lyrische Ich des GoetheTextes den Appell, „in Ruhe gelassen zu werden“? Beschreiben Sie mit ein paar Adjektiven Charakter und Haltung des lyrischen Ich! > Fassen Sie den folgenden Gedanken des Erziehers und Sozialreformers Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) aus seiner Schrift „Über Gesetzgebung und Kindermord“ (1780) zusammen: „ Und endlich, um über den Gegenstand [Kindsmord] von der Leber weg zu reden, was thut das Mädchen am End gegen den Staat, wenn es sein Kind mordet? Ich sehe nichts anders, als es erhaltet den […] so auffallend unnatür- lichen und gewaltsammen Zustand, in welchem es kein Kind gebähren darf, bis es verheurathet [ist], es thut […] nichts anders, als dass es sucht, kinderlos zu bleiben, weil der Staat will, dass es kinderlos sey, und ihm drohet, weil es nicht kinderlos ist.“ Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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