Literaturräume, Schulbuch
113 Der leseraum Lady (setzt den Schmuck plötzlich nieder und geht rasch durch den Saal, nach einer Pause zum Kammerdiener) : Mann, was ist dir? Ich glaube, du weinst? Kammerdiener (wischt sich die Augen, mit schreck licher Stimme, alle Glieder zitternd) : Edelsteine wie diese da – Ich hab auch ein paar Söhne drunter. Lady (wendet sich bebend weg, seine Hand fassend) : Doch keinen Gezwungenen? Kammerdiener (lacht fürchterlich) : O Gott – Nein – lauter Freiwillige. Es traten wohl so etliche vorlaute Bursch vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? – aber unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf dem Parade- platz aufmarschieren und die Maulaffen nieder- schießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr Gehirn auf das Pflaster sprützen, und die ganze Armee schrie: Juchhe nach Amerika! Lady (fällt mit Entsetzen in den Sofa) : Gott! Gott! – Und ich hörte nichts? Und ich merkte nichts? Kammerdiener: Ja, gnädige Frau – warum musstet Ihr denn mit unserm Herrn gerad auf die Bärenhatz reiten, als man zum Aufbruch schlug? – Die Herrlichkeit hättet Ihr doch nicht versäu- men sollen, wie uns die gellenden Trommeln verkündigten, es ist Zeit, und heulende Waisen dort einen lebendigen Vater verfolgten, und hier eine wütende Mutter lief, ihr saugendes Kind an Bajonetten zu spießen, und wie man Bräutigam und Braut mit Säbelhieben auseinanderriss, und wir Graubärte verzweiflungsvoll dastanden und den Burschen auch zuletzt die Krücken noch nachwarfen in die neue Welt – Oh, und mitunter das polternde Wirbelschlagen, damit der Allwis- sende uns nicht sollte beten hören. Lady: (steht auf, heftig bewegt) Weg mit diesen Steinen – sie blitzen Höllenflammen in mein Herz. (Sanfter zum Kammerdiener) Mäßige dich, armer alter Mann. Sie werden wiederkommen. Sie werden ihr Vaterland wiedersehen. Kammerdiener (warm und voll) : Das weiß der Himmel! Das werden sie! – Noch am Stadttor drehten sie sich um und schrien: „Gott mit euch, Weib und Kinder! – Es leb’ unser Landesvater – am Jüngsten Gericht sind wir wieder da!“ 6 Gefeiert, nachgeahmt und angegriffen Johann Wolfgang von Goethe: „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) Ein Roman ohne moralischen Zeigefinger Zur Leipziger Herbstmesse 1774 erschien anonym der Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“. Er enthält Briefe Werthers, adressiert an seinen Freund Wilhelm, ergänzt durch Berichte des fiktiven Herausgebers der Briefe, der sich einschaltet, als Werthers Verzweiflung schon einen extremen Grad erreicht hat. Doch der Name des Verfassers blieb nicht lange verborgen, das Werk löste sofort heftigste Diskussionen aus. Der Grund: Von den Romanen der Aufklärung war es das Lesepublikum gewohnt, moralische Anleitungen für das eigene Leben zu finden, Nützliches, Lehrhaftes und Personen, die zur Identifikation einluden. Goethe jedoch lieferte den Lesern nichts „Nützliches“ und keine moralische Bewertung oder Verurteilung von Werthers Verzweiflungstat. Eineinhalb Jahre zwischen Glück und Verzweiflung 4. Mai 1771: Um einer belastenden Liebesbeziehung zu entkommen, verlegt Werther seinen Wohnsitz aufs Land. Dort zeigt sich ihm die Natur in ihrer ganzen Schönheit, er entdeckt für sich Homer und Klopstock und schwärmt von der Idee einer Natur und Mensch umfassenden Harmonie. 16. Juli: Bei einem Ball lernt er Lotte kennen, er verliebt sich. Bei aller Sympathie und seelischer Verwandtschaft ist Lotte ihrem Verlobten Albert in Treue ver bunden. 10. September: Werther, unfähig, seiner Leidenschaft für Lotte Herr zu werden, sucht die räumliche Entfernung von der Geliebten, reist ohne Abschied ab, nimmt eine Stellung bei Hofe an, trifft dort als Bürgerli cher auf Hierarchie und Standesdünkel. Februar 1772: Lotte und Albert heiraten. 15. März: Werther ist aus einer 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 AUFGABE > Vergleichen Sie mit dieser Szene die thematisch ähnlichen Gedichte von Schubart „Freiheitslied eines Kolonisten“ und „Kaplied“. Das erste behandelt das Thema freiwillig nach Amerika Ausgewanderter, das zweite den Verkauf von Soldaten an die „HolländischOstindische Kompanie“ in Afrika (die Texte sind zum Beispiel im Internet leicht greifbar). Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv
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