Literaturräume, Schulbuch

116 sturm unD Drang (1770–1785/90) Deshalb erschien das Werk anonym, Wieland zeichnete als Herausgeber. Der Roman stellt dar, wie sich eine Frau selbständig entwickeln kann, ohne ihre Bestimmung darin zu sehen, in erster Linie der Männerwelt zu gefallen. Basis für ihre Selbständigkeit sind die ihr nach dem frühen Tod der Mutter vom verständnisvollen Vater ermög­ lichte Bildung und die Möglichkeit, früh aktiv tätig zu sein. Und weil das Fräulein eine große Anlage von Verstand zeigte, beschäftigte er [der Vater] diesen mit der Philosophie nach allen ihren Teilen, mit der Geschichte und den Sprachen, von denen sie die englische zur Vollkommenheit lernte. In der Musik brachte sie es, auf der Laute und im Singen, zur Vollkommenheit. Das Tanzen, soviel eine Dame davon wissen soll, war eine Kunst, welche eher von ihr eine Vollkommenheit erhielt, als dass sie dem Fräulein welche hätte geben sollen; denn nach dem Ausspruch aller Leute gab die unbeschreibliche Anmut, welche die junge Dame in allen ihren Bewegungen hatte, ihrem Tanzen einen Vorzug, den der höchste Grad der Kunst nicht erreichen konnte. Neben diesen täglichen Übungen erlernte sie mit ungemeiner Leichtigkeit alle Frauenzimmerarbeiten, und von ihrem sechzehnten Jahre an bekam sie auch die Führung des ganzen Hauses […] Angeborne Liebe zur Ordnung und zum tätigen Leben, erhöht durch eine enthusiastische Anhänglichkeit für das Andenken ihrer Mutter […] brachten sie auch in diesem Stücke zu der äußersten Vollkommenheit. Um den Nachstellungen des Fürsten zu entkommen, geht das Fräulein die Ehe mit einem ihr vertrauenswürdig erscheinenden Engländer ein. Auf der Flucht mit ihm muss sie erkennen, dass er sie jedoch nicht liebt. Nach Schottland verschleppt, hält sie sich, schwer krank geworden, mit Erziehungsprogrammen für Mädchen und die Mägde und Knechte eines armen Dorfes aufrecht: Ich kannte den ganzen Wert alles dessen, was ich verloren hatte; aber meine Krankheit und Betrach- tungen zeigten mir, dass ich noch in dem wahren Besitz der wahren Güter unseres Lebens geblieben sei. Mein Herz ist unschuldig und rein. Die Kennt- nisse meines Geistes sind unvermindert. Die Kräfte meiner Seele und meine guten Neigungen haben ihr Maß behalten; und ich habe noch das Vermögen, Gutes zu tun. Meine Erziehung hat mich gelehrt, dass Tugend und Geschicklichkeiten das einzige wahre Glück, und Gutes tun, die einzige wahre Freude eines edlen Herzens sei […]. Die Tugend des Fräuleins wird belohnt. Nach dem Tode ihres schließlich von ihrer Menschlichkeit getroffenen, alles bereuenden ersten Mannes wird sie die Gattin eine angesehenen Lords und geliebte Ehefrau und Mutter. „Ohne Männer glücklich sein“ In ihren späteren Erzählungen geht La Roche noch weiter über das traditionelle Frauenbild der Epoche als Gat­ tin, Hausfrau, Mutter hinaus. So beschließt die Heldin der Erzählung „Liebe, Freundschaft und Missverständnis“ kurz vor der Hochzeit, ihrem Mann die „Freiheit“ wiederzugeben und mit ihrer Freundin den „Beweis“ zu erbrin­ gen, dass „wir ohne Männer und ohne ihre Liebe glücklich sein“ können und der „Wert unserer Verdienste und un- seres Lebens nicht von ihnen abhängt“. 2 4 6 8 10 2 4 6 12 14 16 18 20 22 8 10 12 AUFGABE > Welche Teile der Ausbildung könnten Ihrer Ansicht nach als eher spezifisch „weiblich“ angesehen werden, welche überschreiten geschlechtsspezifische Grenzen? AUFGABE > Was sind für das Fräulein die „wahren Güter“ des Lebens? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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