Literaturräume, Schulbuch
Der fokus Das Briefeschreiben – der „Chatroom des 18. Jahrhunderts“? Briefe werden Mode Als „Chatroom des 18. Jahrhunderts“ bezeichnet die Literaturwissenschafterin Evelyne PoltHeinzl den Brief Boom in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Doch blättern Sie noch einmal zurück zu Schillers Brief an sei nen Herzog auf Seite 111. Dieser zeigt die für einen Dichter überraschende, aber damals durchaus übliche unnatürlichgeschraubte Kanzleisprache: Anreden und Ergebenheitsformeln waren für die Schreiben an die Obrigkeiten genau vorgeschrieben. „Briefsteller“ – Musterbriefe – informierten über die Formvorschriften. Auch an den Universitäten wurde Briefkultur geübt. Karl Philipp Moritz bemerkte dazu: Die Deutschen „machen ein eigenes Studium daraus, ihre kriechende Unterwürfigkeit gegen ihre Hochgebornen und Durchlauchtigsten Tyrannen in ihren Titulaturen an den Tag zu legen“. Briefe werden individuell Parallel zu diesen standardisierten Briefen entwickelte sich der Brief zum Kommunikationsmittel zwischen Ange hörigen des gleichen Standes und wurde zu einer Form des Gesprächs über örtliche Entfernungen hinweg. Indi viduelles, Persönliches, Subjektives finden in ihm ihren Platz. Freundschaftsbriefe werden geschrieben, die oft vorgelesen werden, was zu originellen und anspruchsvollen Formulierungen anspornt. Mit den Briefen haben erstmals auch die Frauen die Möglichkeit, sich in eine über den engsten persönlichen Rahmen hinausgehende Kommunikation einzubringen. Nicht zu vernachlässigen ist auch die materielle Voraussetzung für die private Briefkultur, nämlich der erstmals funktionierende Postdienst. Er ermöglicht nicht nur prinzipiell die Zustellung von Briefen, sondern diese Zustellung vollzieht sich nun innerhalb überschaubarer Zeit. So fiel ein großer Nach teil des Briefverkehrs weg. War die Zeit zwischen Abfassung und Ankunft des Briefes zu lange, so war vielfach der Inhalt nicht mehr aktuell, was besonders bei Liebesbriefwechseln prekär sein konnte. Gilt das auch fürs Mailen? Die Wissenschaft sieht zum Teil auch in der Kommunikation per Internet und im saloppen Stil der EMails die Tendenz zur Offenheit über soziale Grenzen oder Bildungsschranken hinweg und Parallelen zur Befreiung des Briefes aus den Regelzwängen der Kanzleibriefe im 18. Jahrhundert. 117 Der fokus Moderne Beziehungen in Briefen und E-Mails INFO Evelyn Schlag: „Das L in Laura“ (2003) Sie lebt in Wien, er in England, sie treffen einander in Lissabon. Wieder zu Hause wird täglich gemailt und geschrieben. In den EMails und Briefen bleiben sie einander vertrauter als in der persönlichen Begegnung, „als wären sie seit Monaten in einer Raumkapsel miteinander unterwegs, in der sie einander nicht sahen und nur von verbaler Nahrung am Leben gehalten wurden“. Daniel Glattauer: „Gut gegen Nordwind“ (2006) Auch Emmi und Leo lieben einander ausschließlich über EMails. Der Grund: ihre Angst, dass die erste, zufällige MailBegeg nung in der Realität zur Enttäuschung führen könnte. Im Fortsetzungsband „Alle sieben Wellen“ (2009) kommt es schließlich zur persönlichen Begegnung. Emmis und Leos Entschluss danach: „Ob es mit uns weitergehen soll? – Unbedingt. – Wohin? – Nirgendwohin. Einfach nur weiter. Du lebst dein Leben. Ich lebe mein Leben. Und den Rest leben wir gemeinsam.“ Leserinnen drängen schon auf eine weitere Fortsetzung: „Lieber Herr Glattauer, ich will Sie ja nicht unter Druck setzen, aber: wenn nicht bald wieder ein neues Buch von Ihnen erscheint, machen Sie zumindest 1 Menschen unglücklich: MICH.“ AUFGABEN > Briefe des 18. Jahrhunderts wurden mit Feder und Tinte, auf Sekretären (Schreibtischen) geschrieben, mit Streupulver getrocknet, versiegelt. Das Schreiben von EMails und SMS vollzieht sich sehr viel nüchterner. Welche Auswirkungen könnte diese Versachlichung auf Sender, Empfänger und Inhalt haben? > Wie wird in EMails oft versucht, Emotionen auszudrücken? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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