Literaturräume, Schulbuch
142 DIe „ WeImarer klassIk“ (1786/1794–1805) unD Der „ geIst Der goethezeIt“ (bIs 1832) Die subjektive Deutung Josephe und Jeronimo können aus ihrer Perspektive das Geschehen nur hoffnungsvoll sehen. Die Zerstörungen, die das Erdbeben verursacht hat, haben nicht nur ihre Flucht und ihr Zusammentreffen im Tal ermöglicht, sondern auch alle an ihrer Verurteilung beteiligten weltlichen und geistigen Institutionen vernichtet. Ihre Inter pretation der Lage: Gott hat ihre Rettung beschlossen. Die falsche Entscheidung In der Überzeugung, in einen göttlichen Plan eingebunden zu sein, der ihre Errettung vorgesehen hat, verwerfen Jeronimo und Josephe die vorgesehene vernünftige Flucht nach Spanien. Sie begeben sich in religiöser Begeiste rung nach St. Jago zurück, um in der einzigen heil gebliebenen Kirche, jener der Dominikaner, Gott für ihre Ret tung zu danken. Doch dort werden die beiden getötet. So wie Jeronimo und Josephe aus ihrer begrenzten Sicht gefühlsmäßig und ohne zu überlegen gehandelt haben, so unüberlegt und blind handeln auch die Mörder und die Anstifter zum Mord. Die Katastrophe geschieht, weil jeder nur seine beschränkte Sicht der Dinge hat Der Gottesdienst in der Kirche beginnt, ein Geistlicher beginnt zu predigen. Bald verwandelt sich die Predigt in Hetze. Er schilderte, was auf den Wink des Allmächti- gen geschehen war; das Weltgericht kann nicht entsetzlicher sein; und als er das gestrige Erdbeben gleichwohl, auf einen Riss, den der Dom erhalten hatte, hinzeigend, einen bloßen Vorboten davon nannte, lief ein Schauder über die ganze Versammlung. Hierauf kam er, im Flusse priesterlicher Beredsamkeit, auf das Sittenverderbnis der Stadt; Gräuel, wie Sodom und Gomorrha sie nicht sahen, straft’ er an ihr; und nur der unendlichen Langmut Gottes schrieb er es zu, dass sie noch nicht gänzlich vom Erdboden vertilgt worden sei. Aber wie dem Dolche gleich fuhr es durch die von dieser Predigt schon ganz zerrissenen Herzen unserer beiden Unglücklichen, als der Chorherr bei dieser Gelegenheit umständlich des Frevels erwähnte, der in dem Klostergarten der Karmeliterinnen verübt worden war; die Schonung, die er bei der Welt gefunden hatte, gottlos nannte, und in einer von Verwün- schungen erfüllten Seitenwendung, die Seelen der Täter, wörtlich genannt, allen Fürsten der Hölle übergab! In einer für Kleist typischen Eskalation der Gewalt begehen die eigentlich zur heiligen Messe versammelten Men schen Selbstjustiz. Die vom Priester aufgewiegelte Menge verwandelt die Kirche und den Vorplatz in ein Schlachtfeld. Jeronimo und Josephe und ein Kind werden gelyncht. Gerade der Glaube an das rettende Eingrei fen Gottes, der die beiden dazu veranlasste, den Gottesdienst zu besuchen, wird ihnen nun zum Verhängnis. Der fundamentalistische Prediger mit seiner beschränkten subjektiven Sicht der Dinge, der das Erdbeben als Strafe Gottes interpretiert, trägt dazu genauso bei wie der Pöbel, der den Mord an Jeronimo und Josephe als gerechte Sühnetat deutet. Niemand findet zu einer objektiven Sicht und Einschätzung. INFO Das Erdbeben von Santiago in der Realität Das historische Beben in Santiago begann am 13. Mai 1647 um 10.37 nachts und dauerte 12 Minuten. Ein Drittel der ca. 12.000 Bewohner starb. Die Panik war groß. Erst als der Bischof in der Kathedrale, die als einzige Kirche nicht vom Beben zerstört worden war, eine besänftigende Predigt hielt, beruhigten sich die Bewohner wieder. Der Bischof verzichte te in seiner Predigt auf jegliche Schuldzuweisung und wies Überlegungen, das Beben sei als göttliche Strafe zu interpretieren, zurück. Kleist orientiert sich an Lissabon Das Erdbeben von Lissabon fand, wie bei Kleist, am Vormittag eines katholischen Feiertages (Allerheiligen) statt, auch die von Kleist geschilderten Begleiterscheinungen ähneln denen in Lissabon, wo ein Großbrand und eine Flutwelle die Zerstörungen verstärkten. Von Kleist werden sowohl Großbrand als auch Flut ausdrücklich erwähnt. Auch das unbarmherzige Verhalten der Geistlichkeit und die Deutung des Bebens als Strafe Gottes finden nur bei der Lissabonner Katastrophe eine Entsprechung. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv
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