Literaturräume, Schulbuch

182 4. faust-fenster Eine moderne Deutung des Dramas Ein Wirtschaftswissenschafter liest „Faust II“ neu Von den aktuellen Deutungen des Dramas ist die Interpretation, die der Schweizer Wirtschaftswissenschafter Hans Christoph Binswanger im Buch „Geld und Magie“ (1985) gibt, besonders auffallend. Er deutet „Faust II“ als hellsichtige Analyse der modernen Wirtschaft. Fausts neue Alchemie: Aus Papier wird Geld Der historische Faust studierte Alchemie. Kaum jemand hält heute die Goldmacherversuche in Alchemie-Zauberküchen für etwas anderes als Scharlatanerie. Die Alchemie in anderer Form hat sich als viel erfolgreicher erwiesen. Denn für das Ziel der Alchemie – Wertvolles aus Wertlosem zu schaffen – ist es ja nicht wesentlich, ob z. B. gerade Blei in Gold verwandelt wird. Entscheidend ist nur, dass sich eine wertlose Substanz in eine wertvolle transformiert: zum Beispiel Papier in Geld. Genau das macht Mephistopheles. Zu Beginn von „Faust II“ befinden sich Mephistopheles und Faust am Hof des Kaisers. Die Stimmung ist getrübt, da die Staatskassen leer sind. Auf Rat von Mephistopheles führt der Kaiser das Papiergeld ein. Es ist gedeckt durch die im Boden liegenden Gold­ vorräte und legalisiert durch die Unterschrift des Kaisers. Der Plan gelingt. Jeder ist bereit, die Banknoten oder „Zettel“, wie es im „Faust“ heißt, als Geld anzunehmen. Das Papier, dessen Materialwert gleich null ist, wird mit dem „magischen“ Vertrauen ausgestattet, es im nächsten Kaufakt gegen etwas stofflich Wertvolles eintauschen zu können. Der Kanzler des Kaisers erklärt den Leuten die Funktion des Papiergeldes und weist darauf hin, dass der Wert des Geldes durch die Bodenschätze, die im Kaiserreich lagern, gedeckt ist: Zu wissen sei es jedem, der’s begehrt: Der Zettel hier ist tausend Kronen wert. Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand, Unzahl vergrabenen Guts im Kaiserland. Das Resultat dieser Geldschöpfung ist die „heitre Welt“, in der man sich kaufen kann, was man will, zum Beispiel „Paläste, Gärtlein, Brüstlein, rote Wangen“. Das (Papier)geld hat Tücken Die Schöpfung des Papiergelds gelingt zwar, aber die Vervielfachung des Geldes führt, auch wenn sie zunächst Industrie, Handel, Konsum beschleunigt, zu seiner zunehmenden Entwertung. Der Hofnarr hat die drohende Inflation und gleichzeitig den möglichen Ausweg erkannt: die Verwandlung des Geldes in Sachwerte. Die künst­ liche Herstellung von Papiergeld selbst ist noch keine perfekte Alchemie. Das Papiergeld bekommt einen mate­ riellen Wert erst dann, wenn es in Produktion und Konsum investiert wird. Das wertlose Papier verwandelt sich in Werte: die Waren. Der Narr wendet sich an Mephistopheles, indem er einen „Zettel“ betrachtet: Narr: Da seht nur her, ist das wohl Geldes wert? Mephistopheles: Du hast dafür, was Schlund und Bauch begehrt. Narr: Und kaufen kann ich Äcker, Haus und Vieh? Mephistopheles: Versteht sich. Biete nur, das fehlt dir nie. Narr: Und Schloss, mit Wald und Jagd und Fischbach? […] Heut Abend wieg ich mich im Grundbesitz! Mephistopheles […]: Wer zweifelt noch an unseres Narren Witz 1 . 2 4 2 4 6 1 Witz bedeutete ursprünglich Weisheit, Wissen. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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