Literaturräume, Schulbuch
188 Das bIeDermeIer unD DIe lIteratur Des vormärz (1820–1848) 18 20 22 24 26 nun dem Volke, das sei die Freiheit, dass man alle Gesetze, die uns eingeschränkt haben, umstoße, dass man dieselben anders und zwar so mache, dass dem Menschen schier alles erlaubt sei, dass man das Anse- hen der Obrigkeit nicht mehr achte, sondern selber regiere, und dass man sich überhaupt unter nichts mehr beuge […]. Das Volk tut nun das, es wird selber erhitzt, die tierischen Begierden erwachen, gute Menschen tun sogar Dinge, die sie nachher bitterlich bereuen, die Volksführer beginnen zu regieren, können es nicht, greifen zu den gewal- tigsten und zerstörendsten Mitteln; andere wollen es ihnen noch zuvortun, übertreiben es noch mehr, es kommt Verwirrung, Zerstörung und Ruin des Landes hervor, bis sich endlich die Menschen in Verzweiflung erheben und mit Kanonen und Waffen ein Ende machen. Das sind meistens die Ausgänge von Revolutionen, und es kommt die Militärherr- schaft. Manche Freiheiten, die das Volk sonst erlangt hätte, wenn es sich mäßig und vertrauenerregend benommen hätte, werden durch jene Hetzer verdorben und verloren […]. Raimund und Nestroy: keine billige Idylle Ferdinand Raimund (1790–1836) attackiert in seinen Dramen den Materialismus, in dem der Mensch nur mehr als Konkurrent ums Geld gesehen wird, wie zum Beispiel „Der Verschwender“ (1) zeigt. Johann Nestroy (1801– 62) bringt auf satirische Weise die Knebelung des Denkens auf die Bühne. Der Zensur wird ein Schnippchen ge schlagen, indem der Autor einzelne Szenen in mehreren – „gefährlichen“ und „ungefährlichen“ – Fassungen schreibt. Zudem „extemporierten“ die Schauspieler auf der Bühne. Sie sprachen spontane Texte, die der bei den Aufführungen stets anwesende Zensurbeamte meist nicht mit dem ihm schriftlich vorliegenden, von der Zensur akzeptierten Text verglich. Nestroy selbst wurde allerdings wegen allzu kritischen Extemporierens mehrmals in Haft genommen und mit Geldstrafen belegt. Nur ein Stück konnte ohne Zensureingriffe aufgeführt werden, „Freiheit in Krähwinkel“ (2) . Die Revolution von 1848 hatte kurzzeitig die Aufhebung der Zensur gebracht. Von 14. März bis 11. November 1848 waren unzensiertes freies Denken und Schreiben möglich. Zensur für Grillparzer Der direkte Auseinandersetzungen scheuende Franz Grillparzer (1791–1872) hatte sich bei den Behörden bald mit Gedichten unbeliebt gemacht, in denen er die MetternichZeit in Gegenüberstellung mit der Antike als die „neue, flache Zeit“ beschrieb. Er wurde deshalb als „Radikaler“ eingestuft, seine Stücke wurden fortan zensuriert. Das Drama „Ein treuer Diener seines Herrn“, das geistlosen Kadavergehorsam vorführt, wollte Kaiser Franz Joseph dem Autor sogar abkaufen, um Druck und weitere Aufführungen zu verhindern. Und selbst das patriotische Stück „König Ottokars Glück und Ende“ war von der Zensur betroffen. Ohne Zensurbeschränkungen wurden nur Grillparzers politisch ungefährliche Dramen mit antiken Stoffen aufgeführt, wie die Trilogie „Das goldene Vließ“, so Grillparzers Schreibung. Es besteht aus den Dramen „Der Gastfreund“, „Die Argonauten“ und „Medea“ (3) . Dämonisches, Unglück und Utopie bei Stifter Auch die Personen in den Werken von Adalbert Stifter (1805–68) leben nicht idyllisch „biedermeierlich“. Sie sind häufig der Missachtung durch die Mitmenschen und unkontrollierbaren Mächten ausgeliefert. Rettung kommt, wenn überhaupt, in letzter Minute. Ein Beispiel dafür ist Stifters Erzählungssammlung „Bunte Steine“ (4) . Auch die Bewahrung des Gleichgewichts zwischen wirtschaftlicher Nutzung der Natur und ihrem ästhetischen Wert ist ein Thema Stifters. In seinem Spätwerk, wie dem Roman „Der Nachsommer“, greift Stifter die Ideen der Auf klärung und der Klassik auf und entwirft ein Modell menschlicher Harmonie im Kontrast zur politischen und sozialen Realität seiner Zeit. Biedermeierliteratur außerhalb Österreichs Außer in Österreich entwickelte sich eine Biedermeierliteratur in Schwaben mit dem vor allem als Lyriker wichtigen Eduard Mörike (1804–75), in der Schweiz mit Jeremias Gotthelf (1797–1854), einem kritischen 28 30 32 34 36 38 AUFGABEN > Welche Befürchtungen hegt Stifter gegenüber Revolutionen? Welche Eskalation sieht er als geradezu unvermeidlich an? > Schlagen Sie die Bedeutung der Begriffe „Nelkenrevolution“ und „samtene Revolution“ nach! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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