Literaturräume, Schulbuch
191 Der leseraum Nestroys Abrechnung „Freiheit in Krähwinkel“ rechnet mit dem MetternichRegime ab. Krähwinkel ist Wien, auf das der Autor nach der MärzRevolution 1848 zurückblickt. So autoritär regiert, wie Krähwinkel ist, so autoritär regiert war Wien vor der Revolution. Ein Hauptübel Krähwinkels ist die Zensur. Es ist verboten, ausländische Zeitungen zu lesen, und der schlimmste Vorwurf, den man jemandem machen kann, lautet: „Sie denken bei der Nacht über das nach, was Sie beim Tag gelesen haben, das liebt die Krähwinkler Regierung nicht.“ Die einheimischen Zeitungen hingegen sind ungefährlich. Dort kann man „außer ein bisserl Theaterpolemik nichts anders finden als: Neu-eröffnete Gasthaus- lokalität, abermaliger Zierdezuwachs der Residenz, prachtvolle Dekorierung, gediegener Geschmack des Herrn Prit- schelberger, prompte Bedienung durch höfliche Kellner“ . Freiheit ist eine Krankheit – „So wie vor 17 Jahren die Cholera, grad so geht jetzt die Freiheit herum“ – und höchst gefährlich: „Freiheit is gar was Schreckliches. Der Herr Bürgermeister sagt immer: der Regent is der Vater, der Untertan is a klein’s Kind, und die Freiheit is a scharf’s Mes- ser.“ Krähwinkels Absolutismus definiert auch, wer ein Mensch ist: „[D]er Mensch fängt erst beim Baron an.“ Nestroys große Einsicht: Macht wirkt über Sprache Nestroy ist der erste Dramatiker, der die Macht der Sprache analysiert. Sie dient zum Einschüchtern, Verschlei ern, Verbergen von Interessen, zur Manipulation. Schon einfache Veränderungen an einemWort, wie das Setzen vom Singular in den Plural, können einen Begriff völlig entwerten und daraus sogar das Gegenteil machen, wie folgende Textpassage zeigt: Recht und Freiheit sind ein paar bedeutungsvolle Worte, aber nur in der einfachen Zahl unendlich groß, drum hat man sie uns auch immer nur in der wertlosen vielfachen Zahl gegeben. Das klingt wie ein mathematischer Unsinn, und is doch die evidenteste Wahrheit. […] Was für eine Menge Rechte haben wir g’habt, diese Rechte der Geburt, die Rechte und Vorrechte des Standes, dann das höchste unter allen Rechten, das Bergrecht, dann das niedrigste unter allen Rechten, das Recht, dass man selbst bei erwiesener Zahlungsunfähigkeit und Armut einen einsperren lassen kann. […] Sogar mit hoher Genehmigung das Recht, ausländische […] Orden zu tragen. Und trotz all diesen unschätzbaren Rechten, haben wir doch kein Recht g’habt, weil wir Sklaven waren. Was haben wir ferner alles für Freiheiten g’habt. Überall auf ’n Land und in den Städten zu gewissen Zeiten Marktfreiheit. […] Wir haben sogar Gedankenfreiheit g’habt, insofern wir die Gedanken bei uns behalten haben. Es war nämlich für die Gedanken eine Art Hundsverord- nung. Man hat s’ haben dürfen, aber am Schnürl führen, wie man s’ loslassen hat, haben s’ einem erschlagen. Mit einem Wort, wir haben eine Menge Freiheiten gehabt, aber von Freiheit keine Spur. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 AUFGABEN > Was verbinden Sie mit dem Wort „Ultra“, in welchen Zusammensetzungen wird der Begriff „ultra“ verwendet? Welche Charakteristiken stecken in den anderen Namen? > Klären Sie zu „Reakzerl, Edler von Zopfen“ die Bedeutung der Begriffe „Reaktion“ und „Reaktionär“! > Welche Assoziationen erweckt der Ortsname Krähwinkel? > Machen Sie im Anschluss an „Freiheit in Krähwinkel“ eine „Namenrallye“ durch Nestroys Dramen und lernen Sie so Nestroys Werk kennen: In welchen Dramen agieren folgende Personen, was sagt ihr Name über sie aus, welche Berufe üben sie aus? Hier die Namen: Gluthammer, Krautkopf; Zangler, Weinberl, Hupfer; Frau von Erbsenstein, Gigl, Schnoferl; Titus Feuerfuchs, Flora Baumscheer, Spund; Plutzerkern, Salome Pockerl; Stellaris, Brillantine, Amorosa, Mystifax, Leim, Zwirn, Knieriem, Pantsch, Fassel; Herr von Scheiter- mann, Anton Muffel; Abendwind der Sanfte, Biberhahn der Heftige. AUFGABEN > Welche Unterschiede sieht der Autor zwischen „Freiheiten“ und „Rechten“ einerseits und „Freiheit“ und „Recht“ andererseits? > Schreiben Sie in freier Form einen Text zumThema „Diese Freiheiten und Rechte habe ich – und diese Freiheit und dieses Recht habe ich nicht!“ Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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