Literaturräume, Schulbuch

216 der poetische realismus (1850–1900) Einblicke in die Arbeitswelt um 1850 Die härteste und am schlechtesten bezahlte Arbeit beim Bau der Semmeringbahn machen die Steinklopfer. Sie zertrümmern Steinblöcke mit dem Hammer zu Schotter. Wer Steinklopfer wird, kann ein Mann bestimmen, der Aufseher. Auch Frauen müssen als Steinklopfer arbeiten. Als eher angenehme Frauenarbeit wird gewertet, wenn eine Frau den ganzen Tag „Backsteine oder mit Mörtel gefüllte Kübel“ schleppen muss. Der Aufseher bestimmt nahezu alles. Er bestimmt, was die Arbeiter zu essen bekommen, denn er macht die Küche. Die Arbeiter haben ihm das Essen zu bezahlen. Nicht selten kauft er verdorbene Nahrungsmittel ein. Auch alles, was die Arbeiter sonst zum Leben brauchen, müssen sie bei ihm zu horrenden Preisen kaufen. Die Berechtigung dafür hat er von der „Bauleitung“ . Der Aufseher bestimmt auch die Arbeitsleistung und kann Arbeiter deshalb entlassen: „Wenn du nicht täglich deine zwei Fuhren Schotter zuwege bringst, so jag ich dich fort!“ Die Auseinandersetzung Einer der Steinklopfer ist Georg, fieberkrank aus der Armee entlassen, von seiner Heimatgemeinde kurzzeitig erhalten, dann zum Steineklopfen befohlen. Eine andere Steinklopferin ist Tertschka, die Stieftochter des Auf­ sehers, ihm als Frau doppelt ausgeliefert, sozial abhängig und sexuell bedrängt. Georg und Tertschka finden an­ einander Halt, wollen die Steinklopferpartie verlassen. In der Monarchie wird überall an der Eisenbahn gebaut. Vielleicht ist woanders ein weniger gewalttätiger Aufseher. Nach „Krain“ möchten sie gehen. Der Aufseher er­ fährt davon, sperrt Tertschka in seiner Hütte ein. Georg will sie herausholen, die Tür zur Kammer aufbrechen. „Was? Die Tür willst du mir einschlagen? Du Räuber! Du Dieb! Hinaus! Sonst lass ich die Gendarmen holen!“ „Lasst sie holen“, rief Georg flammend. „Dann wird sich zeigen, wer im Recht ist! Dann wird sich zeigen, warum Ihr die Tertschka eingeschlossen habt! Dann wird zutage kommen, wie Ihr sie von klein auf misshandelt, wie Ihr der Armen schändlich nachgestellt und ihr den sauer verdienten Taglohn und das Erbteil der Mutter, deren Tod Euch auf dem Gewissen brennt, vorent- halten habt! Dann wird zutage kommen, wie Ihr hier oben mit den Schwachen und Wehrlosen umgeht und wie Ihr Euch mästet mit dem Schweiß und Blut der Arbeiter, die man Euch anvertraut!“ – Georg hielt unwillkürlich inne. Die Wucht und die Wahrheit dieser Anklagen hatten bei dem Aufseher das Maß zu Rande und ihn selbst um alle Besinnung gebracht. Sein Antlitz war bläulich fahl geworden; aufbrüllend wie ein verwundeter Stier, schäumenden Mundes, die Augen weit vorgequollen – so stürzte er sich mit hoch geschwungenem Messer auf Georg. Dieser aber hatte den Hammer erfasst und schwang ihn gegen den Angreifer. Ein dumpfer Schlag erdröhnte; der Aufseher, vor die Brust getroffen, wankte – und taumelte, während sich ein Schwall dunklen Blutes aus seinem Munde ergoss, röchelnd zu Boden. Menschliche Richter Das Militärgericht in Wiener Neustadt erkennt auf Totschlag in Notwehr. Georgs tadellose Militärdienstzeit wird ihm überdies zugute gehalten. Deshalb das milde Urteil: ein Jahr schwerer Kerker. Der Richter ist zudem beeindruckt von der standhaften Liebe der beiden. Er selbst hat anderes erlebt: Liebe, so meint er, „wäre zwar in den Romanen hirnverbrannter Poeten, niemals aber im wirklichen Leben zu finden“ . Deshalb möchte er diese Aus­ nahmeliebe unterstützen. Er verschafft Georg und Tertschka im südsteirischen Ehrenhausen ein „einsames Bahn- wärterhaus“ , mit einem Feld, „mit Mais und Gemüse bepflanzt […], und vor der Tür, umfriedet von einer dichten Bohnenhecke, blühen rötliche Malven und großhäuptige Sonnenblumen“ . Tadel und Lob für Saar Für dieses Umbiegen der Sozialkritik in die sentimentale Idylle ist Saar von der Literaturkritik oft getadelt wor­ den. Der Vorwurf: Mit der zufälligen netten Tat des Militärrichters allein können die Verhältnisse nicht geändert werden. Von anderen Kritikern wird darauf hingewiesen, dass „Die Steinklopfer“ immerhin das Verdienst haben, die erste deutsche Novelle zu sein, die sich mit dem Thema „Arbeiter“ befasst. Andere, wie der bedeutende Dichter der Wiener Moderne Hugo von Hofmannsthal, schätzten Saar als Dichter „ohne Heftigkeit, ohne an­ klagendes Pathos“ , seine Menschen verkörperten diese „innerliche, empfindungsfeine […] österreichische Grund- stimmung“ . 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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