Literaturräume, Schulbuch
220 Der poetIsche realIsmus (1850–1900) 4 „Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte.“ Gottfried Keller: „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ (1856) Seldwyla: die harte Konkurrenz Im Jahre 1856 erscheint die erste Auflage von Gottfried Kellers Novellen sammlung „Die Leute von Seldwyla“. Der erfundene Ort liegt „irgendwo in der Schweiz“ . Der Name bezeichnet nach Keller „einen wonnigen und sonnigen Ort“ . Und tatsächlich: Zwar gründet der Ort auf einem „treff- lichen Schuldenverkehr“ , der viele Seldwyler in den Konkurs führt, ist be völkert von Glückssuchern, Finanzspekulanten und harten wirtschaft lichen Konkurrenten, treibt manche in den Bankrott und andere zur Aus wanderung, doch gehen die Erzählungen – „Pankraz der Schmoller“, „Frau Regel Amrain und ihr Jüngster“, „Die drei gerechten Kammmacher“, „Spiegel das Kätzchen“ – alle gut aus. Nur „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ endet als Tragödie. Auch die Gründe dafür liegen in wirtschaft licher Konkurrenz. Der Realist Keller bezieht sich auf ein reales Ereignis Zu Beginn der Erzählung weist Keller auf die Realität des Geschehens hin: „Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte […].“ Keller hatte den Aus gangspunkt für die Erzählung in der „Zürcher Freitagszeitung“ vom 3. September 1847 gelesen: Im Dorfe Altsellershausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in einer tödlichen Feindschaft lebten und nicht in eine Vereinigung des Paares willigen wollten. Am 15. August begaben sich die Verliebten in eine Wirt- schaft, wo sich arme Leute vergnügen, tanzten daselbst bis nachts 1 Uhr und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die Leiche beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf geschossen. Das alte RomeoundJuliaProblem ist nach wie vor nicht aus der Welt geschafft. Zwei junge Leute lieben einan der, sie gehören aber verschiedenen oder feindlich gesinnten Gruppen, Parteien, Völkern an. Die beiden gehen in den Tod, weil sie im Leben nicht zusammenkommen können. So ist es auch in Kellers Novelle. Zwei Väter auf dem Acker Sie sind gleich lang und knochig, gleich in ihren Gebärden, gleich schweigsam, gleich in ihrer Kleidung, nur die Zipfel ihrer Mützen zeigen in verschiedene Richtungen. Manz und Marti, zwei Seldwyler Bauern, pflügen ihre Äcker. Ein dritter Acker befindet sich dazwischen. Auf ihm laden die beiden die Steine ihrer Äcker ab. Vor dem Nachhausegehen schneiden sie immer noch ein Stückchen vom Acker in der Mitte ab. Dieses Feld gehört kei nem von ihresgleichen, das heißt keinem Seldwyler Bauern. Er gehört, das wissen sie, dem „schwarzen Geiger“ , der in der Gegend herumzieht, zu Festen aufspielt. Doch der hat weder einen „Taufschein“ noch „das geringste Fetz- chen Papier“ , das sein Eigentumsrecht beweisen könnte. Noch trennt der Acker des Geigers Manz von Marti, noch schneiden sie einig den Acker in der Mitte zusammen. Geliebt wird der Acker des Geigers mit seinen Stei nen und wilden Blumen von den Kindern der beiden Bauern, Sali, dem Sohn des Manz, und Vrenchen, der Toch ter des Marti. Er ist ihre Spielwiese. Versteigerung, Verletzung der Symmetrie, Abstieg Schließlich wird der mittlere Acker versteigert. Manz ist Bestbieter. Das Problem: Kurz vor der Versteigerung hat Marti ein Dreieck aus dem mittleren Acker herausgepflügt. Das, was Jahrhunderte lang galt, ist verletzt: Ein Acker hat eine genaue Form zu haben, viereckig, heißt das, „ordentlich grade“ , „wie mit dem Richtscheit gezeich- net“ , ohne „ungehörige Einkrümmung“ . Da würden die anderen Bauern ja lachen! Doch auf wessen Kosten geht Gottfried Keller 2 4 6 8 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=