Literaturräume, Schulbuch
222 Der poetIsche realIsmus (1850–1900) Lebkuchenhaus und Lebkuchenherz Sie wissen um ihre Chancenlosigkeit. Einmal nur miteinander glücklich sein, das wollen sie. Außerhalb Seldwylas ist Kirchweih, dort möchten sie hin. Sali verkauft dafür seine Uhr, Vrenchen verkauft ihr Bett, sie leisten sich ein gutes Frühstück im Gasthaus, Sali kauft für Vrenchen Schuhe und ein Lebkuchenhaus, Vrenchen für Sali ein Leb kuchenherz und beide Ringe für einander. Als sie am Abend tanzen, nicht auf dem Kirchfest, sondern im Treff punkt der Außenseiter, dem „Paradiesgärtlein“, wo der schwarze Geiger zum Tanz aufspielt, fällt der Entschluss: Im heftigen Schmeicheln und Ringen begegneten sich ihre ringgeschmückten Hände und fassten sich fest, wie von selbst eine Trauung vollziehend, ohne den Befehl eines Willens. Salis Herz klopfte bald wie mit Häm- mern, bald stand es still, er atmete schwer und sagte leise: „Es gibt eines für uns, Vrenchen, wir halten Hochzeit zu dieser Stunde und gehen dann aus der Welt – dort ist das tiefe Wasser – dort scheidet uns niemand mehr, und wir sind zusammen gewesen – ob kurz oder lang, das kann uns dann gleich sein. –“ Vrenchen sagte sogleich: „Sali – was du da sagst, habe ich schon lang bei mir gedacht und ausgemacht, nämlich dass wir sterben könnten und dann alles vorbei wäre –“. Das Heuschiff Am Abend besteigen beide ein am Flussufer festgebundenes Heuschiff. So wie am Wasser die erste Liebesbegeg nung erfolgt ist, vollzieht sich am Wasser die letzte. Sali hebt Vrenchen auf das Boot. INFO Kellers Virtuosität Virtuos gestaltet Keller das Verhältnis von Erzählzeit, der Zeit, die man zum Lesen braucht, und erzählter Zeit, der Zeit, die geschildert wird. Die Darstellung der pflügenden Bauern und spielenden Kinder zu Beginn – 1 Tag – erhält 10 Seiten. Die nächsten 13 Jahre inklusive des 10jährigen Streits werden auf 16 Seiten gebracht. Der Streit der Väter, das Aufflammen der Liebe und die Begegnung am nächsten Tag – 2 Tage – erhalten 20 Seiten. Die beiden letzten Tage – Kirchweih und Nacht – bringt der Autor auf 37 Seiten. 2 4 6 8 10 12 Er hob seine Last in das Schiff und schwang sich nach; er hob sie auf die hochgebettete weiche und duftende Ladung und schwang sich auch hinauf, und als sie oben saßen, trieb das Schiff allmählich in die Mitte des Stromes hinaus und schwamm dann, sich langsam drehend, zu Tal. […] Als es sich der Stadt näherte, glitten im Froste des Herbstmorgens zwei bleiche Gestalten, die sich fest umwanden, von der dunklen Masse herunter in die kalten Fluten. Das Schiff legte sich eine Weile nachher unbeschä- digt an eine Brücke und blieb da stehen. Als man später unterhalb der Stadt die Leichen fand und ihre Herkunft ausgemittelt hatte, war in den Zeitungen zu lesen, zwei junge Leute, die Kinder zweier blutarmen […] zugrunde gegangenen Familien, welche in unversöhnlicher Feindschaft lebten, hätten im Wasser den Tod gesucht, nachdem sie einen ganzen Nachmittag herzlich miteinander getanzt und sich belustigt auf einer Kirchweih. Es sei dies Ereignis vermutlich in Verbindung zu bringen mit einem Heuschiff aus jener Gegend, welches ohne Schiffleute in der Stadt gelandet sei, und man nehme an, die jungen Leute haben das Schiff entwendet, um darauf ihre verzweifelte und gottverlassene Hochzeit zu halten, abermals ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 AUFGABEN > Beschreiben Sie die symbolische Bedeutung der Gegenstände, welche die beiden kaufen beziehungsweise verkaufen! > Vrenchen drängt im Lauf des Tages Sali fortwährend zum Tanz: Welche Symbolhaftigkeit steckt in Tanz und Musik und im Namen des Gasthauses „Paradiesgärtlein“? AUFGABEN > In dieser Szene verwendet der auktorial erzählende Autor für Vrenchen erstmals das Personalpronomen „sie“, bis dahin wurde Vrenchen mit „es“ bezeichnet. Erklären Sie diesen Wechsel! > Im Zeitungsbericht entrüstet sich die bürgerliche Welt über diesen „Fall“, ist aber doch zumindest mit verantwortlich. Schreiben Sie auf Basis Ihres Wissens über Vrenchen und Sali einen „Zeitungsgegenbericht“ (Schlagzeile, Untertitel, Lead, Fakten plus Kommentar) für die „Seldwylaer Morgenpost“! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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