Literaturräume, Schulbuch

Keine Schullektüre? Kellers Schriftstellerkollegen waren begeistert, konservative Presse und Kirche äußerten sich kritisch. Ein Kritiker schreibt Folgendes: „Den cynischen Schluss dieser Novelle tadeln wir. […] Tragisch musste der Ausgang sein; aber warum nicht das Liebespaar untergehen lassen in dem Augenblick, da sie das Heuschiff besteigen wollen […]?“ Die „Emmentaler Nachrichten“ kommentierten 1919, dem Jahr von Kellers 100. Geburtstag, das Faktum, dass der Text in Schweizer Gymnasien gelesen wurde: „Dieses pädagogische Musterstücklein der Behörden und Lehrer ist allerdings schon ‚nicht ganz zu verstehen‘. So ergreifend die tragische Liebesgeschichte von Sali und Vreneli ist, ist die Hochzeitsnacht auf dem Heufuder – eine Kinderlektüre!!! […] Aber modern ist man in Zürich!“ In der ersten Ausgabe hatte Keller noch ein Nachwort angefügt, das in späteren Ausgaben fehlt: 223 der leseraum Was die Sittlichkeit betrifft, so bezweckt diese Erzählung keineswegs, die Tat zu beschönigen und zu verherrlichen; denn höher als diese verzweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entsagendes Zusam- menraffen und ein stilles Leben voll treuer Mühe und Arbeit gewesen, und da diese die mächtigsten Zauberer sind in Verbindung mit der Zeit, so hätten sie vielleicht noch alles möglich gemacht; denn sie verändern mit ihrem unmerklichen Einflusse die Dinge […]. 5 „Die Welt ist, wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht, wie wir wollen, sondern wie die anderen wollen.“ Theodor Fontane: „Effi Briest“ (1895) Sie ist 17, er ist 38 Die 17-jährige Effi Briest heiratet den 38-jährigen Baron Geert von Inn- stetten. Vor allem Effis Mutter steht dahinter: „[…] und wenn du nicht ,nein‘ sagst, […] so stehst du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen. Du wirst deine Mama weit überholen.“ Auf die Frage der Mutter, ob sie Innstetten denn nicht liebe, antwortet Effi: „Ich liebe alle, die’s gut mit mir meinen […] und mich verwöhnen. […] Geert ist ein schöner Mann, ein Mann, mit dem ich Staat machen kann und aus dem was wird in der Welt.“ Die Ehe definiert Effi in einem Gespräch mit ihrer Mutter so: [Textausschnitt 1] „Aber kannst du dir vorstellen, und ich schäme mich fast, es zu sagen, ich bin nicht so sehr für das, was man eine Musterehe nennt. […] Ich bin … nun, ich bin für gleich und gleich und natürlich auch für Zärtlichkeit und Liebe. Und wenn es Zärtlichkeit und Liebe nicht sein können, weil Liebe, wie Papa sagt, doch nur ein Papperlapapp ist (was ich aber nicht glaube), nun, dann bin ich für Reichtum und ein vornehmes Haus, ein ganz vornehmes, […] wo der alte Kaiser vorfährt und für jede Dame, auch für die jungen, ein gnädiges Wort hat. Und wenn wir dann in Berlin sind, dann bin ich für Hofball und Galaoper, immer dicht neben der großen Mittelloge. […] Liebe kommt zuerst, aber gleich hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreu- ung – ja, Zerstreuung, immer was Neues immer was, dass ich lachen oder weinen muss. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile.“ Theodor Fontane Eine gewöhnliche Ehe und das Stolpern in eine Beziehung Die Ehe in einer kleinen Stadt verläuft langweilig. Innstetten, auf seine Karriere bedacht, ist oft außer Haus, Effi lebt isoliert, die „Zerstreuung“ fehlt ihr ebenso wie „Zärtlichkeit und Liebe“ , denn „Innstetten war lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht“ . Auch die Geburt der Tochter löst Effi nicht aus ihrer emotionalen Isolation. Da taucht Crampas auf, ein „Damenmann“. Eine Beziehung zwischen Effi und Crampas beginnt, sie passiert eigent- 2 4 6 8 10 2 4 6 8 10 12 14 16 18 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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