Literaturräume, Schulbuch
224 der poetische realismus (1850–1900) lich, Leidenschaft ist nicht dabei. Deshalb ist Effi erleichtert, dass sie wegen des beruflichen Aufstiegs ihres Mannes mit der Familie nach Berlin ziehen muss und so die Affäre mit Crampas beendet ist. Ruhige sechs Jahre verlebt die Familie in Berlin, da findet Innstetten die Briefe von Crampas an Effi. Ein Duell der „Ehre“ wegen Eigentlich möchte er am liebsten Effi ohne Aufsehen verzeihen. Doch seine persönliche Bereitschaft ist nichts gegen die gesellschaftlichen Normen. Die „Ehre“ muss wiederhergestellt werden: „Und dagegen verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf. […] Ich habe keine Wahl. Ich muss.“ Auch Innstettens Freund, mit dem er seine Lage be- spricht und der als einziger überhaupt von dem Ehebruch weiß, sieht den Druck der Gesellschaft: „Ich finde es furchtbar, dass Sie Recht haben, aber Sie haben Recht. […] Die Welt ist einmal wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht, wie wir wollen, sondern wie die anderen wollen.“ Innstetten fordert Crampas zum Duell, Crampas fällt. Scheidung und Verweigerung Innstetten, auch das gehört zur „Ehre“, lässt sich von Effi scheiden, die Tochter bleibt bei ihm. Die Eltern verwei- gern Effi die Zuflucht im Elternhaus mit folgendem Brief: [Textausschnitt 2] Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst Dich auf Dich selbst stellen müssen und darfst dabei, soweit äußere Mittel mitsprechen, unserer Unterstützung sicher sein. Du wirst am besten in Berlin leben (in einer großen Stadt vertut sich dergleichen am besten) und wirst da zu den vielen gehören, die sich um freie Luft und lichte Sonne gebracht haben. Du wirst einsam leben und, wenn Du das nicht willst, wahrscheinlich aus Deiner Sphä- re herabsteigen müssen. Die Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein. Und was das Traurigste für uns und für Dich ist (auch für Dich, wie wir Dich zu kennen vermeinen) – auch das elterliche Haus wird Dir verschlossen sein: wir können Dir keinen stillen Platz […] anbieten, keine Zuflucht in unserem Hause, denn es hieße das, dies Haus von aller Welt abschließen, und das zu tun, sind wir entschieden nicht geneigt. Nicht weil wir zu sehr an der Welt hingen und ein Abschiednehmen von dem, was sich „Gesellschaft“ nennt, uns als etwas unbedingt Unerträgliches erschiene; nein, nicht deshalb, sondern einfach, weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung Deines Tuns, des Tuns unseres einzigen und von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen […]. Das Wiedersehen mit der Tochter Effi lebt mit ihrer Bediensteten Roswitha in einer kleinen Wohnung in Berlin, erst nach vielen Interventionen darf sie ihre inzwischen 10-jährige Tochter Annie erstmals auf Besuch einladen: [Textausschnitt 3] Und nun sage mir, Annie – denn heute haben wir uns ja bloß so mal wiedergesehen –, wirst du mich öfter besuchen?“ „O gewiss, wenn ich darf.“ „Wir können dann in dem Prinz-Albrechtschen Garten spazieren gehen.“ „O gewiss, wenn ich darf.“ „Oder wir gehen zu Schilling und essen Eis. Ananas- oder Vanilleeis; das aß ich immer am liebsten.“ „O gewiss, wenn ich darf.“ Und bei diesem dritten „wenn ich darf“ war das Maß voll; Effi sprang auf, und ein Blick, in dem es wie Empörung aufflammte, traf das Kind. „Ich glaube, es ist die höchste Zeit, Annie […]“. Und sie zog die Klingel. Roswitha, die schon im Nebenzim- mer war, trat gleich ein. „Roswitha, gib Annie das Geleit bis drüben zur Kirche. Johanna wartet da. Hoffentlich hat sie sich nicht erkältet. Es sollte mir leidtun. Grüße Johanna.“ Und nun gingen beide. Kaum aber, dass Roswitha draußen die Tür ins Schloss gezogen hatte, so riss Effi, weil sie zu ersticken drohte, ihr Kleid auf und verfiel in ein krampfhaftes Lachen. „So also sieht ein Wiedersehen aus“, und dabei stürzte sie nach vorn, öffnete die 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Nur zu Prüfz ecken – Eig ntum des Verlags öbv
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