Literaturräume, Schulbuch
Rom: Springquell (1860) 229 GRENZENLOS Es steigt der Quelle reicher Strahl Und sinkt in eine schlanke Schal’. Das dunkle Wasser überfließt Und sich in eine Muschel gießt. Es überströmt die Muschel dann Und füllt ein Marmorbecken an. Ein jedes nimmt und gibt zugleich Und allesammen bleiben reich, Und ob’s auf allen Stufen quillt, So bleibt die Ruhe doch im Bild. Der Literaturwissenschafter Hans-Dieter Gelfert, der sich der genauen Analyse von Meyers „Brunnengedichten“ gewidmet hat, meint, „dieses Gedicht wäre wohl in keine Anthologie aufgenommen worden“ . Seine Begründung: Das Gedicht leiert, das Hervorschießen des Wassers kommt genauso wenig zum Ausdruck wie das sanfte Über fließen von Becken zu Becken. Außerdem meint der Leser einen fünfstufigen Brunnen vor sich zu haben, weil die fünf Reimpaare jeweils wie eine abgeschlossene Einheit wirken. Meyer schreibt um, 1864 lautet das Gedicht so: Der schöne Brunnen (1864) In einem römischen Garten Weiß ich einen schönen Bronnen, Von Laubwerk aller Arten Umwölbt und grün umsponnen. Er steigt in lichtem Strahle, Der unerschöpflich ist, Und plätschert in eine Schale, Die golden wallend überfließt. Das Wasser flutet nieder In zweiter Schale Mitte, Und voll ist diese wieder, Es flutet in die dritte: Ein Geben und ein Nehmen Und alle bleiben reich. Und alle Stufen strömen Und scheinen unbewegt zugleich. Vieles lenkt hier vom Brunnen ab. Der Text beginnt wie ein romantisches Lied, man meint zunächst, es gehe um ein Erlebnisgedicht, nicht um einen Brunnen. In den nächsten Zeilen nimmt das Laubwerk die Fantasie der Leser in Anspruch. Das kräftige Hinauszischen des Wassers ist nicht getroffen, das Verbum „plätschern“ stellt nicht gerade ein sanftes Überfließen dar und ist überhaupt kein besonders poetisches Verb. Es könnte ungewollte Assoziationen wecken, wie die an plätschernde Kinder in der Badewanne. Die zweite Strophe leiert außerdem deutlich. Meyer schreibt wieder um. 1865 hat das Gedicht folgende Form: In einem römischen Garten Verborgen ist ein Bronne, Behütet von dem harten Geleucht der Mittagssonne, Er steigt in schlankem Strahle In dunkle Laubesnacht Und sinkt in eine Schale Und übergießt sie sacht. Die Wasser steigen nieder In zweiter Schale Mitte Und voll ist diese wieder, Sie fluten in die dritte: Ein Nehmen und ein Geben, Und alle bleiben reich, Und alle Fluten leben Und ruhen doch zugleich. Auch hier gilt: In der ersten Strophe ist wenig vom Brunnen die Rede. Zudem ist der Reim von „Bronne“ und „Sonne“ gewaltsam konstruiert, das Wort Brunnen kommt zwar in gewählter Sprache auch als „Bronnen“ vor, nicht aber als „Bronne“ , wie in der zweiten Zeile des Gedichts. Auch „Geleucht“ ist ein künstliches Wort, dessen Klang überdies wenig harmonisch ist. Dass gerade das „harte“ Geleucht den Brunnen behüten soll, scheint sogar widersprüchlich. Der Wechsel von Zischen und Wallen bleibt unausgedrückt. Ein weiteres Problem: Die Leser der damaligen Zeit kannten die von Meyer her verwendete Vers- und Strophenform als typische Balladenstrophe und erwarteten deshalb ein Gedicht mit Handlung statt Beschreibung. 2 4 6 8 10 2 4 6 8 10 12 14 16 2 4 6 8 10 12 14 16 Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv
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