Literaturräume, Schulbuch
230 der poetische realismus (1850–1900) Die endgültige Fassung Erst 1882 ist der Dichter mit seinem Gedicht zufrieden, die lange Phase der Überarbeitungen und verworfenen Versionen zu Ende: Der Römische Brunnen Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht. Lesen Sie den Text laut! Sie erkennen dann deutlich, wie die Bewegung des Wassers in allen Phasen sprachlich nachgeformt ist. Das kräftige Hervorschießen an der Spitze wird nachgebildet durch das ungewöhnliche Vor ziehen des Verbs vor das Subjekt. Das Zischen des Wasserstrahls findet sich in der Häufung der Zischlaute in der ersten Verszeile (steigt, Strahl, gießt) . Das sanftere Geräusch des von Becken zu Becken überfließenden Wassers kommt durch die Häufung von Lauten wie n und l zum Ausdruck (fallend, voll, Rund, wallend, Flut) . Das Stauen des Wassers in den Becken wird ausgedrückt durch eine Hemmung des Sprachflusses. Die Einschübe in Vers drei (sich verschleiernd) und Vers fünf (sie wird zu reich) verlangsamen das Sprechen. Der ständige Kreislauf des Was sers wird vermittelt durch die dreimalige Verbindung der vier Verben in den Versen sieben und acht. Ist das nicht nur subjektive Interpretation, persönlicher Geschmack? Wäre nur Meyers Geschmack oder die persönliche Wertung einiger Leser Grund dafür, dass die letzte Fassung höher eingeschätzt wird als die früheren, so wäre es nicht verständlich, dass genau diese Fassung in Gedicht sammlungen aufscheint. Das heißt, es gibt Kriterien, warum die Mehrzahl von uns ein Gedicht als gelungener beurteilt als ein anderes. Die Übereinstimmung von Form und Inhalt ist, wie Meyers „Brunnengedichte“ zeigen, ein besonders wichtiges „Messinstrument“ für gelungene oder nicht gelungene Texte. Auch heute gilt: Dichter und Dichterinnen sind keine Faulenzer Dass Dichten harte Arbeit ist, darauf weisen die Autorinnen und Autoren auch heute immer wieder hin. Wolf gang Bittner, ein zeitgenössischer Autor, gibt Ihnen einen präzisen Einblick in die Schreibarbeit eines modernen Literaten: Gehen wir einmal von jemandem aus, der haupt beruflich Texte von anerkannt literarischem Niveau verfasst. Die Arbeit eines solchen Berufsschriftstellers spielt sich überwiegend am Schreibtisch ab, der gewöhnlich bei ihm zu Hause im Arbeitszimmer stehen wird. […] Für eine ständige schriftstellerische Arbeit, vor allem an längeren Texten, scheint es […] wichtig zu sein, dass der Autor über einen eigenen, möglichst ruhigen Arbeitsplatz verfügt, an dem und in dessen Nähe ihm die notwendigen Hilfsmittel zur Verfügung stehen wie Wörterbücher, Nachschlage- werke, Computer, Telefon, Fax-Gerät, Kopierer, Bibliothek, Zeitungsarchiv usw. Allerdings bietet die neuere Technik heute Arbeitsmittel (Laptop, Internet, Handy usw.), die das Schreiben überall auf der Welt ermöglichen. […] Das Verfassen litera- rischer Texte erfordert Konzentration. Der Schrift- steller wählt den Inhalt und die Worte, er „verdich- tet“. So zu schreiben, ist eine einsame, einzelgänge- rische Tätigkeit, auch dann noch, wenn man dabei vom Lärm und von der Bewegung in einem Café umgeben ist, erst recht im Arbeitszimmer am Schreibtisch. Man kann noch so viel über das Schrei- ben reden, über Literaturästhetik, Pläne und Entwürfe, man kann umherreisen, im Internet surfen, palavern und schwadronieren; alles nützt nichts, solange man nichts zu Papier bringt oder in den Computer tippt. In dieser Phase, soweit es um die erste Ausarbeitung geht, kann einem niemand helfen, weder ein Lektor noch ein Computer. Aus dem Internet kann man sich bestenfalls nützliche Informationen holen, und der Schreibcomputer vereinfacht die handwerkliche Arbeit am Text. Aber die mönchische Zurückgezogenheit hat auch eine durchaus angenehme, meditative Seite. […] Für den, der tagtäglich schreibt und davon lebt, ist Schreiben zuallererst Arbeit, wenn auch eine selbstbestimmte, die viel Spaß machen kann. Was 2 4 6 8 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=