Literaturräume, Schulbuch
234 Der naturalIsmus (1885–1900) Die wissenschaftlichen Orientierungspunkte: Evolutionstheorie, Positivismus, Milieutheorie Charles Darwins Abstammungslehre war schon für den Realismus von Bedeutung. Sie erklärte, dass die Arten sich im ständigen Wettbewerb um die günstigsten Le bensbedingungen befänden und sich die besten Eigen schaften durchsetzten. Diese Ideen wurden im Naturalis mus als Hoffnung auf eine positive Entwicklung der Menschen interpretiert. Die als „Positivismus“ bezeichne te Philosophie von Auguste Comte (1798–1857) lässt nur Erfahrenes und Beweisbares als tatsächlich, das heißt „positiv“, gelten. Deshalb können nur Soziologie und Na turwissenschaften beanspruchen, Wissenschaft zu sein, im Gegensatz zu metaphysischen Spekulationen und ins besondere zu Religionen, die sich auf Inspiration durch Jenseitiges berufen. Hippolyte Taine (1828–93) übertrug die Auffassung Comtes von der wissenschaftlichen Er klärbarkeit der Welt auf den Menschen und die Gesell schaft. Drei bestimmende Faktoren wirken auf den Menschen ein: ethnische, soziale und historische Gege benheiten. Der Mensch ist bestimmt durch „Rasse, Mili eu und Zeit“ – „la race, le milieu et le moment“ . Der philosophische Orientierungspunkt: Utilitarismus Nützlichkeit – „Utilitarismus“ – , so lautet die politische Forderung der englischen Philosophen und Ökonomen Jeremy Bentham (1748–1832) und John Stuart Mill (1806–73). Der Wert oder Unwert von Handlungen hängt für sie davon ab, welche Folgen diese Handlungen für die Gesellschaft haben. Was als Ziel der Politik anzustreben ist, das ist das höchstmögliche Glück der größtmöglichen Zahl an Menschen. Der Einzelne, der natürlich nach seinem Glück strebt, muss einsehen, dass ihm am besten gedient ist, wenn er seine Wünsche dem Ziel der All gemeinheit anpasst. Optimistisch erwartete Mill für die Zukunft ein Abnehmen des Egoismus zugunsten des Altruismus und einen gelingenden Ausgleich zwischen Individuum und Gemeinschaft. Der politische Orientierungspunkt: die „klassenlose“ Gesellschaft Karl Marx (1818–83) und sein Mitarbeiter Friedrich Engels (1820–95) hingegen glaubten nicht an eine stetige Verbesserung der sozialen Probleme. Die Geschichte zeigt für sie von Anfang an den Kampf zwischen Ausbeu tern und Ausgebeuteten. Zwei große feindliche Lager – Klassen genannt – stehen laut Marx und Engels einander gegenüber: das Proletariat (die Arbeiterklasse) und das kapitalistische Bürgertum (die Bourgeoisie). Zwischen beiden Lagern gibt es einen elementaren Unterschied. Die Arbeiter verkaufen dem Kapitalisten ihre Arbeitskraft, da sie nichts anderes haben. Der Kapitalist bezahlt den Arbeiter dafür. Jener verfügt über die Produktionsmittel, wie Arbeitsgebäude, Grund und Boden, Transportmittel, Rohstoffe, Energiequellen. Der Kapitalist macht Gewinn, indem er für die vom Arbeiter produzierte Ware mehr Geld erzielt, als der Lohn ausmacht, den er dem Arbeiter zahlt. Marx nennt diesen Gewinn Mehrwert. Der Einzelne kann diese Verhältnisse nicht ändern, sondern nur die gesamte Klasse. Marx meint in seiner „Verelendungstheorie“, dass die Arbeiterklasse von der Bourgeoisie immer stärker ausgebeutet wird, bis sie nichts mehr zu verlieren hat und die Revolution beginnt. Diese Revolution werde die Auseinandersetzungen ein für allemal beenden und eine gerechte soziale Ordnung herbeiführen. Für Marx ist diese Änderung der Gesellschaft ein Naturgesetz: Auf den Kapitalismus folge mit logischer Notwendigkeit die Diktatur des Proletariats, diese führe zur „klassenlosen“ Gesellschaft. INFO Ein Beispiel für den „dunklen Abgrund“ Der österreichische Arbeiterdichter Alfons Petzold berichtet in seinem 1920 geschrie benen autobiografischen Bericht „Das rauhe Leben“ über das Schicksal der Tochter eines Arbeitskollegen aus den 90erJahren. Der Mann musste seine Tochter zur Verköstigung aufs Land geben: „Weil er no Gsell war und militärpflichti, habns net heiraten kennan, und da habns halt dös Bauxerl aufs Land zu einer Kostfrau gebn. […] Und denkns Ihnan, amol kriegt er a Telegramm von dera Kostfrau, er soll si glei zammpackn und außikumman, a großes Unglück is gschehn. […] Sein klan Roserl haben d’ Ratzen ’s Halserl zerbissen! D’ Frau hat in d’ Stadt […] müssen und […] wia s’ hamkummt nach a paar Stund, […] sucht’s Kindl, in ganzn Häusl ka Spur. […] Endlich geht’s in Stall eina, husch – springen glei a paar Ratzen bei ihr vorbei. In an Eck sichts was Weißes, sie rennt drauf zu und derkennt […] die klane Roserl, voller Bluat, das Gsichtl und ’s Halserl ganz zerbissen. S’ hat si nimmer grührt […] S’ war scho tot.“ Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv
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