Literaturräume, Schulbuch
DIe lIteraturübersIcht „Treue Wiedergabe des Lebens“ Der Dichter als Chemiker Die Wirklichkeit möglichst naturgetreu, nachvollziehbar und „wissenschaftlich“ darzustellen, ist das Ziel der Lite ratur. „Treue Wiedergabe des Lebens“ fordert der Naturalist Michael Georg Conrad. Der Autor Wilhelm Bölsche vergleicht in der Schrift „Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie“, einer der wichtigsten Programm schriften der Naturalisten, den Dichter mit einem Chemiker, der wissenschaftliche Experimente durchführt: 235 DIe lIteraturübersIcht Die Basis unseres gesamten Denkens bestimmen die Naturwissenschaften. […] Der Dichter […] ist in seiner Weise ein Experimentator, wie der Chemiker, der allerlei Stoffe mischt, in gewisse Temperaturgra- de bringt und den Erfolg beobachtet. Natürlich: der Dichter hat Menschen vor sich, keine Chemikalien. Aber […] auch diese Menschen fallen ins Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre Leidenschaften, ihr Reagieren gegen äußere Umstände, das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen, die der Forscher ergründet hat und die der Dichter […] so gut zu beachten hat wie der Chemiker, wenn er etwas Vernünftiges und keinen wertlosen Misch- masch herstellen will […]. Die mathematische Formel für Literatur Die von Bölsche geforderte „Verwissenschaftlichung“ der Literatur bringt der Lyriker, Epiker und Dramatiker Arno Holz in seiner Schrift „Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze“ (1891/92) auf eine einfache Formel: „Kunst = Naturx“. Das „x“ ist das Material der Kunst, im Falle der Dichtung also die Sprache, die dichterischen Formen und literarischen Gattungen und die nie ganz auszuschaltende Subjektivität des Autors. Das „x“ müsse möglichst nahe bei Null sein, die Literatur soll die Wirklichkeit möglichst exakt abbilden. Die literarischen Vorbilder Das große Vorbild für eine auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Literatur ist Emile Zola (1840– 1902). Auch für Zola ist der Romanautor ein Experimentator. Er müsse die „menschliche Maschine“ auseinander nehmen und untersuchen, wie sie in bestimmten Situationen und Milieubedingungen funktioniere. Denn wie alles in der Natur verhalte sich auch der Mensch nach erkennbaren Regeln und Gesetzen. In seinem 20bändigen Romanzyklus „Die RougonMacquart“ verwirklicht Zola seine Forderungen: Er schildert auf der Basis genauer, oft fotografisch festgehaltener Recherchen fünf Generationen von Familien, die unter dem totalen Einfluss von Ver erbung und Milieu denken und handeln. Auch Henrik Ibsen (1828–1906), der das naturalistische Drama mit seinen gesellschaftskritischen Stücken beeinflusste („Nora“, „Stützen der Gesellschaft“), arbeitete mit wissen schaftlicher Genauigkeit. Er durchforschte die Zeitungen nach Fällen und legte sich dazu eine Sammlung von Material an. Der zweite skandinavische Dramatiker, August Strindberg („Fräulein Julie“), wirkte mit seinem Stre ben nach unbedingter Naturwahrheit auf der Bühne ebenso auf den deutschen Naturalismus wie die russischen Romanciers Leo Tolstoi („Anna Karenina“) und Fjodor Michailowitsch Dostojewski („Schuld und Sühne“). Die Literatur des Naturalismus und die soziale Frage Die Naturalisten interessieren sich unter dem Einfluss von Comte und Taine für die Randschichten der Gesell schaft, die Exzesse der Großstadt, Alkoholismus, Kriminalität, Geisteskrankheit, Zerrüttung von Familie und Ehe. Dort kommt ihrer Ansicht nach die Abhängigkeit des Menschen am ungeschminktesten zum Ausdruck. Ein Beispiel ist „Familie Selicke“ der beiden Autoren Johannes Schlaf und Arno Holz. ImWesentlichen handelt es sich dabei um ein „klassisches“ Drama innerhalb der Familie. Der Vater trinkt und schlägt die Mutter, die Familie lebt am Existenzminimum, es ist Weihnachten. Man wartet auf die Ankunft des Vaters, von dem man hofft, dass er wenigstens heute nach Hause kommt, die kleine Tochter leidet an einer schweren Krankheit. Selicke kommt, schwer betrunken, aber fröhlich, merkt den Abscheu, den er auslöst. Weihnachtsfeier gibt es keine, die Tochter stirbt. Die Naturalisten protestieren zwar gegen soziale Missstände, sind aber prinzipiell von pessimistischer Grundhaltung und zeigen keine Lösung der sozialen Probleme auf. 2 4 6 8 10 12 14 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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