Literaturräume, Schulbuch

236 Der naturalIsmus (1885–1900) Fort mit der „Backfisch-Literatur“ und „Altweiberkritik“ Geschätzt werden von den Naturalisten der junge Goethe, die Literatur des Jungen Deutschland und Büchner. Sich selbst bezeichnen sie auch als „jüngere Stürmer und Dränger“, „Jüngstes Deutschland“ und „Moderne“. Ro­ mantik und Biedermeier, vor allem aber die seichte Unterhaltungsliteratur der Zeit sind die Zielscheiben der naturalistischen Kritik. Der Herausgeber der Literaturzeitschrift „Die Gesellschaft“ formuliert in Anspielung auf die bevorzugte Lektüre von Geschichten in Familienzeitschriften seine Kritik an Frauen und Teenagerlesestoff („Backfischliteratur“) so: „Unsere ,Gesellschaft‘ bezweckt zunächst die Emanzipation der […] Literatur […] von der Tyrannei der ,höheren Töchter‘ und der ,alten Weiber beiderlei Geschlechts‘. […] Fort, ruft unsere ,Gesellschaft‘, mit der geheiligten Backfisch-Literatur, mit der angestaunten phrasenseligen Altweiber-Kritik […]. […] Unsere ,Gesellschaft‘ wird keine Anstrengung scheuen, der herrschenden jammervollen Verflachung und Ver- wässerung des literarischen, künstlerischen und sozialen Geistes starke […] Leistungen entgegenzusetzen, um die entsittlichende Verlogenheit, die romantische Flunkerei und entnervende Phantasterei durch das positive Gegenteil wirksam zu bekämpfen.“ Eine neue Sprache und der „passive Held“ Auch die literarische Sprache musste sich der getreuen Darstellung der Wirklichkeit anpassen. Dies zeigt sich besonders im Drama. Abgelehnt wurden „unwahre“ Formen wie Monolog und Vers. Umgangssprache und Dia­ lekt zogen in die Literatur ein mit ihren Ungenauigkeiten, Wiederholungen, Satzabbrüchen, ihrem Gestammel, ihren grammatischen und stilistischen Fehlern. Am Durchschnittsmenschen und an den Rändern der Gesell­ schaft war für die Naturalisten der Mensch als Produkt des Milieus und Gefangener der gesellschaftlichen Ver­ hältnisse am besten erkennbar. Der traditionelle Held der klassischen Literatur wurde deshalb vom so genannten passiven „Helden“, unentschlossenen, schwankenden Typen, abgelöst, wie dies exemplarisch die Novelle „Bahn- wärter Thiel“ von Gerhart Hauptmann (1861–1946) (1) zeigt. Eine ganze Gruppe von Menschen als „Helden“ bringt erstmals Hauptmanns soziales Drama „Die Weber“ auf die Bühne (2) . Neue Formen auch in der Lyrik In der Lyrik sollten weder Reim noch Strophen noch ein nach Regeln fixiertes Metrum verwendet werden. Ein vom Inhalt des Gedichts bestimmter „notwendiger“ Rhythmus sollte dem Gedicht die Form geben. Pathos, Sehnsucht, Gefühlsromantik waren als Themen verboten. Den nachhaltigsten Versuch einer neuen Lyrik unter­ nahm Arno Holz (1863–1929) in den „Phantasusgedichten“ (3) . Politische Attacken gegen die Dichter Trotz aller Sympathie für soziale Anliegen verstanden sich die Naturalisten nicht als politische Bewegung mit konkreten Zielen und Strategien. Ihrer Meinung nach hätte dies die Freiheit der Kunst eingeschränkt. Es gehöre zu den Aufgaben der Dichtung, alle bedeutungsvollen und nach Bedeutung ringenden Gewalten des gegenwärtigen Lebens in ihren Licht- und Schattenseiten poetisch zu gestalten […]. Demnach sind soziale, nationale, religiös-philo- sophische und literarische Kämpfe spezifische Hauptelemente der gegenwärtigen Dichtung, ohne dass sich dieselbe tendenziös dem Dienste von Parteien und Tagesströmungen hingibt. Kritik aus allen politischen Richtungen war die Folge dieser Haltung. Par­ teien wie den Sozialisten waren die Naturalisten zu wenig engagiert, kon­ servativen Kreisen wie Bürgertum, Adel und Herrscherhaus zu offensiv. Obwohl es offiziell in Deutschland seit 1874 keine Zensur mehr gab, mussten öffentliche Theateraufführungen polizeilich genehmigt werden. Geschlossene Vorstellungen fielen jedoch nicht in den Kontrollbereich der Polizei. Deshalb wurden private Theatervereine gegründet. Die bedeu­ tendste private Bühne war die „Freie Bühne“ in Berlin, neben München das Zentrum des Naturalismus. Vor allem auf diesen privaten Bühnen wurden zunächst die naturalistischen Dramen von Gerhart Hauptmann, Max Halbe, Arno Holz und Johannes Schlaf sowie die Dramen Ibsens auf­ geführt. INFO Realismus versus Naturalismus auf den Punkt gebracht Der Realismus zeigt den Menschen in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnis­ sen, der Naturalismus zeigt ihn als diesen Verhältnissen ausgeliefert. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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