Literaturräume, Schulbuch

Der leseraum 1 „Damit war ich als Schriftsteller in die Welt getreten.“ Gerhart Hauptmann: „Bahnwärter Thiel“ (1888) Der erste große Erfolg des Naturalismus Die Erzählung „Bahnwärter Thiel“ ist der erste große Erfolg der naturalis­ tischen Literatur. Die Novelle wurde von den einen gefeiert: „Gerhart Haupt- mann – den Mann muss man sich merken!“ , schrieb ein Rezensent. Die ande­ ren fühlten sich provoziert. Getadelt wurde, dass Hauptmann sich auf die Schilderung „kranker Seelen“ verlege und „Schwächlinge oder dem Wahnsinn nahe Personen“ schildere. Hauptmann jedenfalls notiert in seiner Autobiogra­ phie: „Damit war ich als Schriftsteller in die Welt getreten!“ Das Neue und Provokante Zumindest nach außen hin ist für das Bürgertum, das die Mehrheit des Lese­ publikums der Epoche ausmacht, die harmonische Familie die Basis der Ge­ sellschaft. Thiel zerstört dieses Idealbild mit dem Mord an seiner zweiten Frau Lene und ihrem gemeinsamen Sohn, der in der Erzählung übrigens nicht ein­ mal einen Namen trägt. Zunächst beginnt die Erzählung geradezu idyllisch: „Allsonntäglich saß der Bahnwärter Thiel in der Kirche zu Neu-Zittau, ausgenommen die Tage, an denen er Dienst hatte oder krank war und zu Bette lag.“ Doch Stück für Stück bricht Hauptmann aus der scheinbaren Idylle he­ raus. Durch Lenes Unachtsamkeit wird Thiels Sohn Tobias aus erster Ehe von einem Schnellzug zermalmt. Der Tod des Sohns führt zu Thiels psychischem Zusammenbruch. Er stürzt sich und die Familie in den Abgrund. Hier der Schluss der Novelle: Die Leiche von Tobias wird in Thiels Haus gebracht. 237 Der leseraum Nach Verlauf von einigen Stunden, als die Männer mit der Kindesleiche zurückkehrten, fanden sie die Haustüre weit offen. Verwundert über diesen Umstand, stiegen sie die Treppe hinauf, in die obere Wohnung, deren Tür ebenfalls weit geöffnet war. Man rief mehrmals den Namen der Frau, ohne eine Antwort zu erhalten. Endlich strich man ein Schwefelholz an der Wand, und der aufzuckende Lichtschein enthüllte eine grauenvolle Verwüstung. „Mord, Mord!“ Lene lag in ihrem Blut, das Gesicht unkenntlich, mit zerschlagener Hirnschale. „Er hat seine Frau ermordet, er hat seine Frau ermordet!“ „Kopflos lief man umher. Die Nachbarn kamen, einer stieß an die Wiege. „Heiliger Himmel!“ Und er fuhr zurück, bleich, mit entsetzensstarrem Blick. Da lag das Kind mit durchschnittenem Halse. Der Wärter war verschwunden; die Nachfor- schungen, welche man noch in derselben Nacht anstellte, blieben erfolglos. Den Morgen darauf fand ihn der diensttuende Wärter zwischen den Bahn- geleisen und an der Stelle sitzend, wo Tobiaschen überfahren worden war. Er hielt das braune Pudelmützchen im Arm und liebkoste es ununterbrochen wie etwas, das Leben hat. Der Wärter richtete einige Fragen an ihn, bekam jedoch keine Antwort und bemerkte bald, dass er es mit einem Irrsinnigen zu tun habe. Der Wärter am Block, davon in Kenntnis gesetzt, erbat telegraphisch Hilfe. Nun versuchten mehrere Männer ihn durch gutes Zureden von den Geleisen fortzulocken; jedoch vergebens. Der Schnellzug, der um diese Zeit passierte, musste anhalten, und erst der Übermacht seines Personals gelang es, den Kranken, der alsbald furchtbar zu toben begann, mit Gewalt von der Strecke zu entfernen. Man musste ihm Hände und Füße binden, und der inzwischen requirierte Gendarm überwachte seinen Transport nach dem Berliner Untersuchungs- gefängnisse, von wo aus er jedoch schon am ersten Tage nach der Irrenabteilung der Charité 1 überführt wurde. Noch bei der Einlieferung hielt er das braune Mützchen in Händen und bewachte es mit eifer- süchtiger Sorgfalt und Zärtlichkeit. 1 Berliner Krankenhaus Gerhart Hauptmann 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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