Literaturräume, Schulbuch
238 Der naturalIsmus (1885–1900) 2 „Hier wird der Mensch langsam gequält, hier ist die Folterkammer!“ Gerhart Hauptmann: „Die Weber“ (1892) „Die Weber“ zwischen „Vor Sonnenaufgang“ (1889) und „Vor Sonnenuntergang“ (1932) „Vor Sonnenaufgang“ ist Hauptmanns erster Bühnenerfolg. Das Thema: Aus Angst, dass ein gemeinsames Kind erblich belastet sein könnte, verlässt der Mann seine Geliebte, als er von der Trunksucht ihres Vaters und ihrer Schwester erfährt. Sie ersticht sich – vor Sonnenaufgang. Das Thema von „Vor Sonnenuntergang“: Ein alter Mann möchte mit einer jungen Frau, die ihn liebt, ein neues Leben beginnen. Die Familie des Mannes tut alles, um die Verbindung zu verhindern, greift zu Bestechung, Verleumdung, Erpressung. Denn das Erbe soll in der Familie bleiben. Das Drama endet mit dem Selbstmord des alten Mannes. Dazwischen liegen Hauptmanns soziale Dramen „Fuhrmann Henschel“ (1898), „Rose Bernd“ (1903), „Die Ratten“ (1911) und die Komödie „Der Biber pelz“ (1893). Die wechselseitige Unterdrückung von Mann und Frau, die in desolaten Umständen leben müssen, ist das Hauptthema dieser Dramen. Bei den Hundeessern Das 1892 aufgeführte Drama, von Hauptmann in zwei Fassungen – Mund art und Schriftsprache – gestaltet, spielt in einem der Weberzentren des 19. Jahrhunderts, in Schlesien. Hauptmann eröffnet das Stück mit einer Szene in der herrschaftlichen Villa des Fabrikanten Dreißiger. Die Weber, die laut Szenenanweisung wie Menschen aussehen, „die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind, wo sie in peinigender Gespanntheit eine Entschei- dung über Leben und Tod zu erwarten haben […], flachbrüstige, hüstelnde, ärmliche Menschen“ , müssen dort ihr Baumwollgewebe abliefern. Dreißiger und sein Angestellter Pfeifer drücken die Preise bis ins Extrem. Aufbegeh ren scheitert wie das Bitten um Vorschuss, um essen und überleben zu können. Die zweite Szene des Dramas bietet einen bewussten Kontrast: Von der Villa des Fabrikanten führt Hauptmann die Zuschauer in die Hüt te des Webers Baumert: eng, schadhaft, „mit Papier verklebte und mit Stroh verstopfte Fensterlöcher. […] Ein paar Kartoffelschalen sind zum Dörren auf Papier gelegt. […] Das Getöse der Webstühle, […] davon Erdboden und Wän- de erschüttert werden, […] erfüllt den Raum.“ Zu essen gibt es nichts außer einem zugelaufenen Hund. Der wird geschlachtet, da er ohnehin verhun gern müsste. Doch als man ihn isst, muss man sich übergeben. Zu lange hat man schon kein Fleisch mehr gegessen. Aus der extremen Not entsteht der Gedanke an Widerstand. Neben dem Weber Ansorge ist auch der ehema lige Soldat Moritz Jäger in der Hütte, er kann lesen und schreiben und er kennt deshalb auch das Weberlied. Er liest, schülerhaft buchstabierend, schlecht betonend, aber mit unverkennbar starkem Gefühl. Alles klingt heraus: Verzweiflung, Schmerz, Wut, Hass, Rachedurst. 1 Vehme: Femegericht: heimliche, in ihren Urteilen nicht überprüfbare Gerichte des späten Mittelalters Hier im Ort ist ein Gericht, noch schlimmer als die Vehmen 1 wo man nicht erst ein Urteil spricht, das Leben schnell zu nehmen. Hier wird der Mensch langsam gequält, hier ist die Folterkammer, hier werden Seufzer viel gezählt als Zeugen von dem Jammer. Die Herrn Dreißiger die Henker sind, die Diener ihre Schergen, davon ein jeder tapfer schind’t, anstatt was zu verbergen. Ihr Schurken all, ihr Satansbrut … Ihr höllischen Kujone, ihr fresst der Armen Hab und Gut, und Fluch wird euch zum Lohne. Hier hilft kein Bitten und kein Flehn, umsonst ist alles Klagen, INFO Die Hundeesser In vielen Kulturen vor allem Europas gilt das Essen von Hunden als Zeichen extremer Not, und diejenigen, die es praktizieren, werden als Ausgestoßene betrachtet. Dies ist bis heute so. Lesen Sie dazu den Reisebericht „Die Hunde esser von Svinia“ (2003) des österreichischen Essayisten KarlMarkus Gauß. Die „Hundeesser“, sind die letzten innerhalb der Hierarchie der slowakischen Roma, die ihrerseits schon auf der untersten Stufe des sozialen Ansehens stehen. Den Grund, weshalb das Essen von Hunden oder Katzen tabuisiert ist, sehen Forscher darin, dass beide Tierarten viel größeren Nutzen bringen, wenn sie leben (Jagd, Mäusevernichtung, emotio naler Nutzen) als wenn sie gegessen werden. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv
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