Literaturräume, Schulbuch

242 Der naturalIsmus (1885–1900) Der fokus Was soll und darf die Kunst? Majestätsbeleidigung und Kunstdebatte Erst nach langem Prozess waren die „Weber“ von der Polizei zur Aufführung in Berlin freigegeben worden. Haupt­ argument für die Freigabe: Die Plätze seien „im Allgemeinen so teuer und […] die Zahl der weniger teueren Plätze verhältnismäßig so gering, dass dieses Theater vorwiegend nur von Mitgliedern derjenigen Gesellschaftskreise be- sucht wird, die nicht zu Gewalttätigkeiten oder anderweitiger Störung der öffentlichen Ordnung geneigt sind“ . Am Tage nach der Aufführung der „Weber“ kündigte der deutsche Kaiser Wilhelm II. aus Protest seine Loge im Deut­ schen Theater Berlin. Die Ausdehnung der Literatur auf die Bereiche des Hässlichen, der Armut, der Randfiguren und Hinterhöfe provozierte bis in die höchsten Kreise. So groß war die Empörung, dass es der Kaiser nicht bei der Logenkündigung bewenden ließ. Er brachte selbst seine Vorstellungen von Kunst in die Öffentlichkeit. Die natu­ ralistischen Autoren konterten und beklagten die Missachtung ihrer Kunst, nicht zuletzt auch aus existenziellen Erwägungen. Lesen Sie dazu zwei Texte; der erste stammt vom deutschen Kaiser Wilhelm II., der zweite vom Naturalisten Conrad Alberti. Sie befassen sich mit der Frage der „richtigen“ Kunst und ihrer Aufgabe. Wilhelm II.: Die wahre Kunst (Aus einer Rede des Kaisers, 1901) Wer sich […] aus dem Gesetz der Schönheit und dem Gefühl für Ästhetik und Harmonie […] loslöst […], der versündigt sich an den Urquellen der Kunst. Aber noch mehr. Die Kunst soll mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an den Idealen wieder- aufzurichten. Uns, dem deutschen Volke, sind die großen Ideale zu dauernden Gütern geworden, während sie anderen Völkern mehr oder weniger verloren gegangen sind. Es bleibt nur das deutsche Volk übrig, das an erster Stelle berufen ist, diese großen Ideen zu hüten, zu pflegen, fortzusetzen, und zu diesen Idealen gehört, dass wir den arbeitenden, sich abmühenden Klassen die Möglichkeit geben, sich an dem Schönen zu erheben und sich aus ihren sonstigen Gedankenkreisen heraus- und emporzuar- beiten. Wenn nun die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, weiter nichts tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen, wie es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volke. Conrad Alberti: Der Deutsche und die Kunst (Aus der Zeitschrift „Die Gesellschaft“, 1889) Die Kunst hat in Deutschland kein Publikum. Wenn der Franzose, der Skandinavier sich einen Genuss verschaffen will, greift er zu einem Buche – der Deutsche in demselben Falle zum Bierglas oder zur Skatkarte. […] Der Deutsche ist der gröbste Materialist unter allen Nationen. Er würde den 2 4 6 8 10 2 12 14 16 18 20 4 6 AUFGABEN > Welche akustischen, visuellen und olfaktorischen (= Riech) Wahrnehmungen nimmt das lyrische Ich auf? > Schreiben Sie Ihr Gedicht zu den folgenden Titeln aus dem „Phantasus“ und vergleichen Sie Ihre Version mit Holz’ Originalgedicht! (Texte einsehbar z. B. als „Reclamheft“ oder im Internet unter http://www. zeno.org/Literatur/M/Holz ,+Arno/Gedichte/Phantasus: Auf einem Schreibtisch; Neben einem grünver­ hangenen Fenster; Aus grauem Himmel sticht die Sonne; Das alte Nest; Die alten Dächer; Die Diele knackt; Die Lampe brennt; Die Sonne sank; Er kann kein Vogelgezwitscher vertragen; Gottseidank! Die Haustür ist zu; Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt; Um euern Garten … > Beschreiben Sie im Sekundenstil – siehe Kasten Seite 241 – nach Wahl das Fallen eines Blattes, den Flug eines Insekts, das Aufblühen einer Blume, das Müdewerden bei der Hausübung, das Türaufmachen in der Disco, das Warten auf den Bus, das erste Zitroneneis …! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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