Literaturräume, Schulbuch

256 symbolIsmus, ImpressIonIsmus, fIn De sIècle, WIener moDerne Der „Chandos-Brief“ – Hofmannsthals Sprachskepsis Wer so wie Hofmannsthal in der Sprache lebt, der kann auch zum Skeptiker der Sprache werden. Denn er ist sensi­ bel gegenüber der Sprache, kann ihr Scheitern in der Kom­ munikation und auch den eventuellen Missbrauch der Sprache leichter spüren als andere. 1902 veröffentlicht Hof­ mannsthal eine kleine Schrift, die unter dem Namen „ChandosBrief“ bekannt ist. Lord Chandos, ein fiktiver englischer Autor, versucht darin sein literarisches Verstum­ men zu erklären. Aber nicht nur literarisch schweigt Chan­ dos. Es ist ihm überhaupt die Fähigkeit verloren gegangen, „über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“ . Die Sprache selbst ist ihm zum Problem gewor­ den. Sie kann die Wirklichkeit nicht mehr eindeutig wie­ dergeben. Abstrakte Begriffe erscheinen als unklar, Urteile als willkürlich. INFO Misstrauen gegenüber der Sprache ist damals keine Seltenheit, wie der folgende Text des Sprachphilosophen Fritz Mauthner zeigt. Der Text war Hofmannsthal nachweislich bekannt: „Kein Mensch kennt den anderen. Geschwister, Eltern und Kinder kennen einander nicht. Ein Hauptmittel des Nichtverstehens ist die Sprache. Wir wissen voneinander bei den einfachsten Begriffen nicht, ob wir bei einem gleichen Worte die gleiche Vorstellung haben. […] Je vergeistigter das Wort, desto sicherer erweckt es bei verschiedenen Menschen verschiedene Vorstellungen. Daher auch so vielfach Streit unter sonst vernünftigen und ruhigen Menschen. […] Durch die Sprache haben es sich die Menschen für immer unmöglich gemacht, einander kennenzulernen.“ Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte „Geist“, „Seele“ oder „Körper“ nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, […] sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. […] Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urteile, die leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, dass ich aufhören musste, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen. 3 „Verse sind keine Gefühle – sie sind Beobachtungen.“ Rainer Maria Rilke: „Neue Gedichte“ (1907/08) und „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1910) Vom Welterfolg „Cornet“ zu den „Neuen Gedichten“ Um die Jahrhundertwende bildet sich zum Zentrum Wien ein zweiter Brenn­ punkt der deutschsprachigen Literatur der Habsburgermonarchie, nämlich Prag. Mit Max Brod, Franz Kafka, Franz Werfel, Rainer Maria Rilke erreicht die Stadt literarische Geltung bis in unsere Epoche hinein. Der erste große Erfolg Rilkes ist die lyrische Erzählung „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ (1899). Ein junger österreichischer Offizier der Türkenkriege aus der Familie Rilkes reitet in den Schlachtentod. Soldaten der beiden Weltkriege zogen, widersinnig genug, mit dem Buch über den Heldentod in die Kriege. Erschienen war der Band als Nummer 1 der für die Literatur des Fin de Siècle wichtigen „InselBücherei“. Bis heute ist er in mehr als 1,3 Millionen Exemplaren verkauft worden. Die „Neuen Gedichte“ 1905 wird Rilke Sekretär des Bildhauers Auguste Rodin in Paris. Dort entsteht der Großteil der „Neuen Gedichte“. Nicht Gefühle oder Empfindungen sind ihr The­ ma, sondern genaue Beobachtungen von Menschen, Tieren, Gegenständen des Rainer Maria Rilke 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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