Literaturräume, Schulbuch
Alltags in und um Paris. Deshalb nennt man sie auch „Dinggedichte“. Ein frühes „Dinggedicht“ haben Sie kennen gelernt, wenn Sie den Fokus zur Epoche des Realismus durchgearbeitet haben, nämlich C. F. Meyers Text „Der römische Brunnen“. Mit Sensibilität filtert Rilke das für diese „Dinge“ Wesentliche heraus, um ihr „wahres Wesen“ zu ergründen: am Fragment einer antiken griechischen Statue, an einer Kathedrale, einer Erblindenden, einem Bettler, Schwan, einer Gazelle, an Flamingos, einem Park im Regen, einem Panther im Pariser Tiergarten. „Der Panther“ und „Die Erblindende“ sind zwei berühmte Beispiele für Rilkes Lyrik. 257 Das funDament Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Dass es mir zum Beispiel niemals zum Bewusstsein gekommen ist, wieviel Gesichter es gibt. Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, Der Panther Im Jardin des Plantes, Paris Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein. Die Erblindende Sie saß so wie die anderen beim Tee. Mir war zuerst, als ob sie ihre Tasse ein wenig anders als die andern fasse. Sie lächelte einmal. Es tat fast weh. Und als man schließlich sich erhob und sprach und langsam und wie es der Zufall brachte durch viele Zimmer ging (man sprach und lachte), da sah ich sie. Sie ging den andern nach, verhalten, so wie eine, welche gleich wird singen müssen und vor vielen Leuten; auf ihren hellen Augen die sich freuten war Licht von außen wie auf einem Teich. Sie folgte langsam und sie brauchte lang als wäre etwas noch nicht überstiegen; und doch: als ob, nach einem Übergang, sie nicht mehr gehen würde, sondern fliegen. Paris und „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ Der Panther im „Jardin des Plantes“ lebt nicht mehr in Freiheit, wie es seiner Natur entspräche, sondern ist zum Schauobjekt degradiert worden. Doch es geht Rilke nicht nur um den Panther. Das Tier wird zum Symbol des modernen Menschen. Auch er ist Zwängen unterworfen, unfrei, vor allem in der Großstadt. In seinem bedeu tendsten, stark autobiographischen Prosatext „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ gibt Rilke seine Pariser Eindrücke wieder. Der sensible dänische Dichter Malte, 28 Jahre alt, wird von der Riesenstadt überwältigt, spürt hinter den Gesichtern und Fassaden die Innenseite der „Dinge“. Oft sind das Ekel, Ängste, Armut, Leere, Tod, denn Malte „lernt sehen“ . 2 4 6 8 10 12 2 4 6 8 10 12 14 16 AUFGABEN > Welche Einzelbeobachtungen macht der Autor? Drückt der Autor Mitleid oder Sentimentalität aus oder überlässt er die Reaktion über das „Schicksal“ der Erblindenden und des Panthers ganz den Lesern/ Leserinnen? > Welche Funktion haben die Wortwiederholungen und Binnenreime im „Panther“? Wo gibt es Zäsuren, welche die Langsamkeit des Ganges und das Umkehrenmüssen betonen? 2 4 6 8 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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