Literaturräume, Schulbuch
259 Der leseraum | Der fokus Die Abrechnung Das Hotel-Stubenmädchen > Skizzieren Sie, gemäß Altenbergs oben zitierter Bemerkung, seine kleinen Beobachtungen würden dasselbe sagen wie ein dicker Roman, eine Romanhandlung zu den beiden Texten: Vorgeschichte, Fortsetzung, Ende! Der fokus „Die Fackel“ Der streitbare Satiriker Karl Kraus Als 1897 das Café Griensteidl, Mittelpunkt der Wiener Literaturszene, abgerissen – „demoliert“ – wurde, nahm dies der Autor und Kritiker Karl Kraus (1874–1936) zum Anlass für eine Abrechnung mit der gesamten „Wiener Moderne“. In seinem Aufsatz „Die demolierte Literatur“ (1898) polemisiert er gegen die Dichter, die er als „Stimmungsmenschen“ ironi siert, die im Café „seltsame Farbenkompositionen für Gefrorenes und Me- lange“ wünschen, und bedauert spöttisch, dass sie sich nach dem Abriss nun einmal im wirklichen Leben zurechtfinden müssten. Für Kraus war Literatur keine Feier des ästhetisch Schönen, sondern Waffe der Kritik an Politik und Gesellschaft. Ein sehr eleganter fremder Herr trat auf der Straße an eine sehr elegant gekleidete junge schöne Dame heran, grüßte ehrerbietig und sagte: „Dieses Kleid ist sehr schön, das ich Ihnen geschenkt habe –.“ „Das ist eine gemeine Frechheit! Wie können Sie mit mir so sprechen?!?“ „Regen Sie sich nicht auf, süße Gnädigste. Es ist so, wie ich es Ihnen sage. Aber ich gönne es Ihnen ja von ganzem Herzen. Ihr Gatte ist mir nämlich Geld schuldig; und wenn er mir korrekterweise dieses Geld, das ich dringendst brauche und ihm liebens- würdigsterweise geliehen habe, zurückgegeben hätte, hätte er Ihnen jedenfalls dieses herrliche Kleid nicht kaufen können! Also ist dieses Kleid von meinem Gelde bezahlt worden. Nur einen Rat erlaube ich mir Ihnen zu geben: Sie sind schön genug, um auf diese prächtigen Hüllen verzichten zu können. […] Verzeihen Sie, Adieu.“ Die Dame kam nach Hause, zerschnitt ihr Kleid, machte sich selbst ein ganz einfaches, merkwürdig wunderbares und apartes, wie noch niemand es je gesehen hatte. Ihr Gatte sagte: „Wo ist das neue Kleid, das ich dir gekauft habe?!?“ „Es ist mir Tinte darüber gekommen, verzeihe, es ist gänzlich unbrauchbar geworden für mich –“ 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Sie saß nachts, ganz zerpatscht von Stiegensteigen, Sorgsamsein für fremde Menschen, Aufmerken auf fremde Wünsche, in der Portiersloge, zählte einen Haufen Trinkgelder in ihre Schürze. Ich wusste, dass sie ein entzückendes dreijähriges Mäderl habe, und der Gatte war verschollen. Ich sagte: „Woher sind Sie, Marie?!“ „Aus Kärnten.“ „Sie müssen ja die Dorfschönheit gewesen sein –.“ „Das war ich!“ „Und alle Jünglinge müssen sich um Sie beworben haben –.“ „Das haben sie getan.“ „Und da haben Sie sich den gerade aussuchen müssen?!“ „Er mich!“ „Und Sie sind so ruhig, so gesichert –.“ „Da kann man nicht aufbegehren. Es ist das Schicksal!“ „Nein, die Dummheit war es, die Borniertheit –.“ „Das ist ja unser Schicksal!“ Später sagte sie: „Rühren Sie mich nicht an, es passt mir nicht. Weshalb streicheln Sie meine Haare?! An mir ist nichts mehr zum Streicheln –.“ Ich schenkte ihr eine Krone. „Wofür geben Sie mir das?!“ „Gewesene Dorfschönheit!“ erwiderte ich. Da begann sie zu weinen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Karl Kraus AUFGABE Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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