Literaturräume, Schulbuch
260 symbolIsmus, ImpressIonIsmus, fIn De sIècle, WIener moDerne Das Programm der „Fackel“: „Was wir umbringen“ Im Allgemeinen stellen sich neue Zeitschriften in ihrer ersten Nummer mit ihrem Programm vor, das nicht selten sinngemäß die Phrase enthält: „Was wir Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, bringen wollen, ist …“ Kraus hin gegen leitet die erste Nummer seiner Zeitschrift „Die Fackel“ mit den Worten ein: „Kein tönendes ‚Was wir brin- gen‘, sondern ein ehrliches ‚Was wir umbringen‘ hat sie sich als Leitwort gewählt.“ Von 1899 bis 1936 schreibt Kraus 922 Nummern der Zeitschrift. Nur am Anfang wird er durch Mitarbeiter unterstützt, ab 1911 schreibt er alles allein. 22.000 Seiten voll Kritik, Satire und Polemik umfasst die Gesamtausgabe. Kraus sieht die „Fackel“ als Enthüllungsblatt und hat damit anfangs einen Riesenerfolg. 30.000 Exemplare verkaufen sich in der ersten Wo che. Nur wenige Zeitungen übertreffen diese Auflage, unter anderem die „Neue Freie Presse“. Vor allem gegen sie, von Kraus als „Neue Feile Presse“ beschimpft, und die Manipulation und den Missbrauch der Sprache durch die Medien richtet sich seine Kritik. Ihr Ziel: die „Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes“ . Käufliche Berichterstattung Der Presse wirft Kraus vor, dass „bloß das, was zwischen den Zeilen steht, nicht bezahlt“ sei, alles andere an Be richterstattung sei käuflich. Diese Attacke des Autors hatte ihren Grund. Kraus war es gelungen, die Geldflüsse großer Wirtschaftsunternehmen an Zeitungen nachzuweisen, um wohlwollende Berichterstattung zu erkaufen. Wenige Wochen nach Erscheinen der ersten Nummer der „Fackel“ wurde Kraus nachts von Journalisten überfal len und misshandelt. Kraus selbst deckt mit Scharfsinn die hinter den Phrasen der Sprache liegenden Abgründe auf. Die Phrase „der Krieg ist ausgebrochen“ ist für Kraus die große Verschleierung der Verantwortlichkeit der Politik. Denn der Krieg ist für Kraus kein Naturereignis. Nur Vulkane z. B. „brechen aus“ . Wenn Leute darüber re den, dass der Krieg ein großer Spaß für sie werde, auf Österreichisch eine „Mordshetz“ , so sieht Kraus, wie unbe wusst mit diesem Wort das Morden und Hetzen der Menschen ausgesprochen wird. Wenn die Propaganda verkündet, es handle sich im Krieg um eine Aufgabe der Ehre und des Patriotismus, so verkürzt Kraus diese Phrase zu dem die Geschäfte mit dem Krieg entlarvenden Satz „Jawohl, es handelt sich in diesem Krieg!“ . Kraus ist ein Meister der Sprache. In Tausenden von Aphorismen komprimiert er seine satirischen Attacken: – Paternoster heißt ein Lift. Betlehem ist ein Ort in Amerika, wo sich die größte Munitionsfabrik befindet. – Friseurgespräche sind der unwiderlegbare Beweis dafür, dass die Köpfe der Haare wegen da sind. – „Ach, das ist ja zum Schießen!“, hörte ich einen Dreijährigen sagen […]. – Schwarz auf weiß, so hat man jetzt die Lüge. – Wie wird die Welt […] in den Krieg geführt? Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie’s lesen. – Herr, vergib ihnen, denn sie wissen, was sie tun! – Das Wort „Familienbande“ hat einen Beigeschmack von Wahrheit. – Die Kunst dient dazu, uns die Augen auszuwischen. – Die Schule ohne Noten muss einer ausgeheckt haben, der vom alkoholfreien Wein betrunken war. – „Nicht wahr, Sie sind der Herr Karl Kraus?“, fragte mich ein Coupégenosse 1 […]. Ich sagte: „Nein“. Womit ich’s allerdings zugegeben habe. Denn wäre ich ein anderer gewesen, so hätte ich mich ja mit dem Trottel in ein Gespräch eingelassen. – Wenn die Menschheit keine Phrasen hätte, bräuchte sie keine Waffen! > Ordnen Sie die Aphorismen folgenden Themen zu: Sprachkritik, Pressekritik, Kunstkritik, Kritik an vor getäuschten harmonischen Beziehungen, Kritik am Bildungssystem, Einblick in das hoch entwickelte Selbstwertgefühl des Autors! > Welchen Aphorismen würden Sie zustimmen, welche ablehnen? Begründen Sie Ihr Urteil! 1 Mitreisender im Zugsabteil AUFGABEN W Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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