Literaturräume, Schulbuch

261 Der fokus | grenzenlos „Die letzten Tage der Menschheit“ 220 Szenen, in denen mehr als ein halbes Tausend Figuren auftreten, umfasst Karl Kraus’ Drama „Die letzten Tage der Menschheit“, entstanden 1918/19. Das Geschehen des Ersten Weltkriegs wird in einer Abfolge von scheinbar wahllos aneinandergereihten Ausschnitten vorgeführt. In Wien, Berlin, in Kanzleien, Kasernen, Hinterhöfen, Bür­ gerwohnungen, in Zeitungsredaktionen und Lazaretten, im Prater, in Schützengräben und Wallfahrtskirchen treten Kaiser Franz Josef, der deutsche Kaiser Wilhelm, Feldherren, Soldaten, Zivilisten jeder sozialen Schattie­ rung auf. Jeder Akt stellt die Ereignisse eines Kriegsjahres vor, beginnend mit der Ankündigung des Zeitungs­ verkäufers „Extraausgabee –! Ermordung des Thronfolgers! Da Täta vahaftet!“ . Über ein Drittel des Textes ist eine Montage aus Zeitungsartikeln, Militärbefehlen, Annoncen, Verordnungen, Gerichtsurteilen aus diesen Jahren. Ge­ rade dieses authentische Material legt die im Krieg auf die Spitze getriebene Manipulation bloß. Aufgrund der Länge, der Personenanzahl, der Hunderten von Schauplätzen ist das Drama unspielbar. Gestaltet wurde es unter anderem als Hörspielbearbeitung und als Lesung von Helmut Qualtinger, beide erhältlich als CD. Die Demaskierung der NS-Ideologie Am 30. Jänner 1933 übernehmen die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht. Im Frühjahr 1933 beginnt Kraus mit der Arbeit an einem Sonderheft der „Fackel“. Er dokumentiert den schleichenden Beginn der NaziHerrschaft vor allem anhand einer Analyse von NSZeitungsartikeln und der Sprache des Nationalsozialismus. ImHerbst 1933 been­ det er das Manuskript, doch er veröffentlicht es nicht. Die Gründe: Kraus sah sich nach der Ermordung des Schrift­ stellers Theodor Lessing in Prag durch die Nationalsozialisten selbst in Gefahr und fürchtete als jüdischer Autor, dass die Veröffentlichung in Deutschland einen Rachefeldzug gegen die jüdische Bevölkerung auslösen könnte. So er­ schien dieses Werk, nach Ansicht des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt „das Wichtigste, was die deutsche Literatur zum Nationalsozialismus hervorgebracht hat“ , unter dem Titel „Dritte Walpurgisnacht“ erst 1952. Für Kraus war die erste Walpurgisnacht, die Nacht, in der das Böse losgelassen wird, die aus Goethes „Faust “ , die zweite der Erste Weltkrieg, die dritte die Machtergreifung Hitlers. Kraus schwieg jedoch nicht. In einem mehr als 300 Seiten starken Sonderheft der „Fackel“ demaskierte er 1934 die Unmenschlichkeit der NSIdeologie an Beispielen wie diesem: grenzenlos Drei bemerkenswerte Frauen des Fin de Siècle und die Geschichte eines Bildes Kämpferinnen und Anregerinnen Frauen waren Anregerinnnen für die Dichter, Maler, Komponisten, schrieben als Kämpferinnen gegen soziale, politische und geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten, und dennoch ist von ihnen in Literaturgeschichten oft nicht die Rede. Drei bedeutende Frauen des Fin de Siècle sollen deshalb hier vorgestellt werden. Adelheid Popp hat in ihren Schriften, Reden und Aktionen viele Ideen der heutigen Frauenbewegung vorweggenommen. Alma MahlerWerfel spielte eine große, wenn auch nicht unumstrittene Rolle als Anregerin der Künste. Das Leben von Adele BlochBauer schließlich zeigt, wie Fragen um Bedrohungen und Beraubungen, denen jüdische Bürgerinnen und Bürger in der NSZeit ausgesetzt waren, erst in jüngster Zeit zu einer Lösung kommen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 [Vor ein paar Tagen] war von dem Fall jenes Mäd- chens die Rede gewesen, das mit kahl geschornem Kopf von sechs Bewaffneten durch die Straßen Nürn- bergs geführt und in den Tingeltangels zur Schau ge- stellt wurde, mit einer Tafel um den Hals, an der die abgeschnittenen Zöpfe hingen und die Worte zu lesen waren: Ich habe mich einem Juden hingegeben. „Schlank, zerbrechlich und, ungeachtet des kahlen Kopfes, ausnehmend hübsch“, war sie – nach Bericht der ‚Times‘ – die Reihe der internationalen Hotels entlang geführt worden. Sie stolperte einige Male und wurde dann von der Mannschaft wieder auf die Füße gestellt, manchmal in die Höhe gehoben […]. Bei dieser Gelegenheit wurde sie vom Publikum […] ver- höhnt und spaßhafter Weise eingeladen, eine Rede zu halten. Die Kinder des amerikanischen Gesandten ha- ben es gesehen; Europa hat es gehört. Noch nie ist Ähnliches in einem Angsttraum erlebt worden. […] Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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