Literaturräume, Schulbuch
278 eXpressIonIsmus unD DaDaIsmus (1910–1920/1925) 34 36 38 40 42 44 Jean de Vienne richtet sich auf. Sein Blick schweift nach den Sechs, die inmitten der Gasse sich ihm genähert haben: Hebt diesen auf und stellt ihn innen auf die höchste Stufe nieder. Der König von England soll – wenn er vor dem Altar betet – vor seinem Überwinder knien! Die Sechs heben die Bahre auf und tragen Eustache de Saint-Pierre auf ihren steil gestreckten Armen – hoch über den Lanzen – über die Stufen in die weite Pforte […]. Glocken rauschen ohne Pause aus der Luft. Das Bürgervolk steht stumm. Aus der Nähe scharfe Trompeten. Der englische Offizier: Der König von England! Jean de Vienne und die gewählten Bürger stehen abwartend. Das Licht flutet auf dem Giebelfeld über der Tür: in seinem unteren Teil stellt sich eine Niederlegung dar; der schmale Körper des Gerichteten liegt schlaff auf den Tüchern – sechs stehen gebeugt an seinem Lager. – Der obere Teil zeigt die Erhebung des Getöteten: er steht frei und beschwerdelos in der Luft – die Köpfe von sechs sind mit erstaunter Drehung nach ihm gewendet. Ein erfolgreiches Stück Georg Kaiser war bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten neben Gerhart Hauptmann der meistgespielte zeitgenössische Autor in Deutschland. „Die Bürger von Calais“ waren sein erfolgreichstes Stück. Der Opfermut Eustache de SaintPierres beeindruckte in einer Zeit, in der die totalitären Weltanschauungen von links und rechts den Einzelmenschen zu überrollen drohten. Heute wird gerade die Schlussszene sehr kontrovers beurteilt. Sie stellt, wie die letzten Zeilen des zitierten Abschnittes zeigen, Eustache de SaintPierre Christus an die Seite und demonstriert an Eustache die Grablegung und Auferstehung Christi. Kritiker tadeln das religiöse Pathos, Befürworter loben die Kühnheit dieser Szene. 5 „… fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Franz Kafka: „Die Verwandlung“ (1912), „Der Prozess“ (1914/15), „Eine alltägliche Verwirrung“ (1917) und „Brief an den Vater“ (1919) „Die Verwandlung“ Eine große Verstörung Kafkas Erzählungen und Romane setzen oft mit Situationen ein, die für die Betroffenen unerklärlich und bedrohlich sind. Ein durchaus realistischer Sachverhalt sprengt plötzlich die Grenzen der Realität. „Die Verwandlung“ beginnt mit fol genden Sätzen: Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. „Was ist mit mir geschehen?“, dachte er. Es war kein Traum. 46 48 50 52 54 56 Franz Kafka 2 4 6 8 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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