Literaturräume, Schulbuch
279 der leseraum Kafka täuscht herkömmliche Leseerwartungen Wenn in einer Erzählung ein Mensch plötzlich in ein Tier verwandelt wird, so löst diese Information bestimmte Erwartungen der Leser/Leserinnen aus. So könnte man etwa ein Märchen erwarten. Dort sind Verwandlungen in Tiere gewohnte Motive. Man könnte auch an phantastische Geschichten denken, in die das Übernatürliche hi neinspielt und die ein verblüffendes, meist gutes Ende nehmen. Eine andere Erwartung wäre die, dass die Erzäh lung einen „doppelten Boden“ hat und der Autor mit dieser Verwandlung etwas erklären oder symbolisieren will und eine Interpretation anbietet, in diesem Fall zum Beispiel, dass die Verwandlung aus irgendeiner Schuld Gre gors erfolgt und als Buße und Sühne zu deuten sei. Doch „Die Verwandlung“ bietet, so wie Kafkas andere Werke, dem Leser weder das eine noch das andere an. Gregor arbeitet seit dem Konkurs der väterlichen Firma so fleißig, dass er die ganze Familie – Vater, Mutter und die Schwester Grete – versorgen kann. Seit seiner Verwandlung muss er, eingeschlossen in sein Zimmer, von der Schwester wie ein Tier mit Nahrung versorgt werden. Der Vater muss sich eine Stelle als Bankdiener suchen, auch Mutter und Schwester sind gezwungen zu arbeiten, um die Familie und Gregor zu erhalten. Gregor krabbelt mit seinen zappelnden Beinen im Zimmer herum, die Mutter fällt bei seinem Anblick in Ohnmacht, der Vater bombardiert ihn mit Äpfeln, einer davon bleibt in Gregors Rücken stecken. Gregor leidet wochenlang unter der Wunde, isst immer weniger. Eines Abends, die Tür von Gre gors Zimmer ist diesmal nicht wie sonst verschlossen, krabbelt er, angelockt vom Violinspiel der Schwester, ins Wohnzimmer zu den anderen Familienmitgliedern. Die Schwester begann zu spielen; Vater und Mutter verfolgten, jeder von seiner Seite, aufmerksam die Bewegungen ihrer Hände. Gregor hatte, von dem Spiele angezogen, sich ein wenig weiter vorgewagt und war schon mit dem Kopf im Wohnzimmer. Er wunderte sich kaum darüber, dass er in letzter Zeit so wenig Rücksicht auf die andern nahm; früher war diese Rücksichtnahme sein Stolz gewesen. Und dabei hätte er gerade jetzt mehr Grund gehabt, sich zu verstecken, denn infolge des Staubes, der in seinem Zimmer überall lag und bei der kleinsten Bewegung umherflog, war auch er ganz staubbedeckt; Fäden, Haare, Speiseüberreste schleppte er auf seinem Rücken und an den Seiten mit sich herum; seine Gleichgültigkeit gegen alles war viel zu groß, als dass er sich, wie früher mehrmals während des Tages, auf den Rücken gelegt und am Teppich gescheuert hätte. Und trotz dieses Zustandes hatte er keine Scheu, ein Stück auf dem makellosen Fußboden des Wohn zimmers vorzurücken. Die Familie entdeckt ihn, weiß sich vor Ekel nicht zu fassen, in ihr wächst der Wunsch, das „Untier“ loszuwerden. „Weg muss er“, rief die Schwester, „das ist das einzige Mittel, Vater. Du musst bloß den Gedanken loszuwerden suchen, dass es Gregor ist. Dass wir es so lange geglaubt haben, ist ja unser eigentliches Un- glück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, dass ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegan- gen. Wir hätten dann keinen Bruder, aber könnten weiter leben und sein Andenken in Ehren halten. So aber verfolgt uns dieses Tier, […] will offenbar die ganze Wohnung einnehmen und uns auf der Gasse übernachten lassen. Sieh nur, Vater“, schrie sie plötzlich auf, „er fängt schon wieder an!“ Und in einem für Gregor gänzlich unverständlichen Schrecken verließ die Schwester sogar die Mutter, stieß sich förmlich von ihrem Sessel ab, als wollte sie lieber die Mutter opfern, als in Gregors Nähe bleiben, und eilte hinter den Vater, der, lediglich durch ihr Benehmen erregt, auch aufstand und die Arme wie zum Schutze der Schwester vor ihr halb erhob. Aber Gregor fiel es doch gar nicht ein, irgend- jemandem und gar seiner Schwester Angst machen zu wollen. Er hatte bloß angefangen, sich umzudre- hen, um in sein Zimmer zurückzuwandern, und das nahm sich allerdings auffallend aus, da er infolge seines leidenden Zustandes bei den schwierigen Umdrehungen mit seinem Kopfe nachhelfen musste, den er hierbei viele Male hob und gegen den Boden schlug. […] Er staunte über die große Entfernung, die ihn von seinem Zimmer trennte, und begriff gar nicht, wie er bei seiner Schwäche vor kurzer Zeit den gleichen Weg, fast ohne es zu merken, zurückgelegt hatte. Immerfort nur auf rasches Kriechen bedacht, achtete er kaum darauf, dass kein Wort, kein Ausruf seiner Familie ihn störte. Erst als er schon in der Tür war, wendete er den Kopf, nicht vollständig, denn er fühlte den Hals steif werden, immerhin sah er noch, dass sich hinter ihm nichts verändert hatte, nur die Schwester war aufgestanden. Sein letzter Blick streifte die Mutter, die nun völlig eingeschlafen war. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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