Literaturräume, Schulbuch

280 eXpressIonIsmus unD DaDaIsmus (1910–1920/1925) Kaum war er innerhalb seines Zimmers, wurde die Tür eiligst zugedrückt, festgeriegelt und versperrt. Über den plötzlichen Lärm hinter sich erschrak Gregor so, dass ihm die Beinchen einknickten. Es war die Schwester, die sich so beeilt hatte. Aufrecht war sie schon da gestanden und hatte gewartet, leichtfüßig war sie dann vorwärtsgesprungen, Gregor hatte sie gar nicht kommen hören, und ein „End- lich!“, rief sie den Eltern zu, während sie den Schlüssel im Schloss umdrehte. „Und jetzt?“, fragte sich Gregor und sah sich im Dunkeln um. Er machte bald die Entdeckung, dass er sich nun überhaupt nicht mehr rühren konnte. Er wunderte sich darüber nicht, eher kam es ihm unnatürlich vor, dass er sich bis jetzt tatsächlich mit diesen dünnen Beinchen hatte fortbewegen können. Im Übrigen fühlte er sich verhältnismäßig behaglich. Er hatte zwar Schmerzen im ganzen Leib, aber ihm war, als würden sie allmählich schwächer und schwächer und würden schließlich ganz vergehen. […] An seine Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück. Seine Meinung darüber, dass er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener als die seiner Schwester. In diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens blieb er, bis die Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug. Den Anfang des allgemeinen Hellerwerdens draußen vor dem Fenster erlebte er noch. Dann sank sein Kopf ohne seinen Willen gänzlich nieder, und aus seinen Nüstern strömte sein letzter Atem schwach hervor. Als am frühen Morgen die Bedienerin kam – vor lauter Kraft und Eile schlug sie, wie oft man sie auch schon gebeten hatte, das zu vermeiden, alle Türen derartig zu, dass in der ganzen Wohnung von ihrem Kommen an kein ruhiger Schlaf mehr möglich war –, fand sie bei ihrem gewöhnlichen kurzen Besuch an Gregor zuerst nichts Besonderes. Sie dachte, er liege absichtlich so unbeweglich da und spiele den Beleidigten; sie traute ihm allen möglichen Verstand zu. Weil sie zufällig den langen Besen in der Hand hielt, suchte sie mit ihm Gregor von der Tür aus zu kitzeln. Als sich auch da kein Erfolg zeigte, wurde sie ärgerlich und stieß ein wenig in Gregor hinein, und erst als sie ihn ohne jeden Widerstand von seinem Platze geschoben hatte, wurde sie aufmerksam. Als sie bald den wahren Sachverhalt erkannte, machte sie große Augen, pfiff vor sich hin, hielt sich aber nicht lange auf, sondern riss die Tür des Schlafzimmers auf und rief mit lauter Stimme in das Dunkel hinein: „Sehen Sie nur mal an, es ist krepiert; da liegt es, ganz und gar krepiert!“ 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 Eine Sorge weniger Das Ehepaar Samsa und die Schwester machen erleichtert einen Ausflug vor die Stadt und besprechen die Zukunft. „Der Prozess“ Josef K. erwacht und wird verhaftet Auch im „Prozess“ liegt der Bankangestellte Josef K. noch im Bett, als das Unheil eintrifft: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Zunächst meint er, „es handle sich wohl um einen groben Spaß, den ihm aus unbekannten Gründen, vielleicht weil heute sein drei- ßigster Geburtstag war, die Kollegen in der Bank veranstaltet hatten […]“ . Dafür spricht auch, dass er zwar verhaf­ tet wird, aber in Freiheit bleiben darf. Aber Kafka täuscht auch im „Prozess“ herkömmliche Leseerwartungen. Es handelt sich um keinen Kollegenulk wie in Trivialromanen. Es geht auch nicht um die Suche nach einem mög­ lichen „Verleumder“ oder die Aufklärung eines Verbrechens von K. wie in Detektivromanen. Josef K. versucht zu erfahren, welches Vergehen ihm zur Last gelegt wird. Doch niemand gibt ihm seine Schuld bekannt. Je länger der „Prozess“ dauert, umso mehr fühlt sich K. auf eine unbestimmte Weise schuldig, ohne sich aber eines konkreten Verstoßes gegen das Gesetz bewusst zu sein. Er möchte seinen Fall vom obersten Gericht erklärt bekommen, kann es aber im Labyrinth der Amtsstellen nicht finden. AUFGABEN > Was unterscheidet Gregor Samsas Verwandlung von der Verwandlung von Menschen in Tiere in Mythen und Märchen? Lesen Sie dazu eventuell die Verzauberung der Gefährten des Odysseus aus der Odyssee oder Märchen wie „Der Froschkönig“, „Die sieben Raben“, „Die Sechs Schwäne“, „Die zwölf Brüder“! > Was unterscheidet das in der „Verwandlung“ angedeutete Verhalten der Schwester zu Gregor vom Geschwisterverhältnis in „Brüderchen und Schwesterchen“ und „Hänsel und Gretel“? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=